Von Einem, der auszog, seine Überzeugungen zu ändern

Christine Winter // Coaching-Geschichten

26. Oktober 2015  

Diese Trancegeschichte handelt davon, alte Ãœberzeugungen gehen zu lassen, um Platz für neue Ãœberzeugungen zu gewinnen. 

Du kannst sie auf zweierlei Weise lesen.

Wenn du ein märchenhaftes Selbstcoaching machen willst, solltest du dir eine deiner eigenen Überzeugungen, die nicht mehr aktuell, aber noch sehr stark ist, auf einen Zettel schreiben, bevor du die Geschichte liest.

Und wenn für dich jetzt gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist, um bewusst einen Glaubenssatz loszulassen, dann ist mein Text vielleicht trotzdem ein schönes Märchen, das du in einer ungestörten halben Stunde lesen magst…


In alter Zeit war es üblich, als junger Mann die Welt zu erkunden und alles Wissen, das man bis dahin gesammelt hatte, auf die Probe zu stellen.

Für Matthias war dieses „auf die Walz gehen“ der jungen Handwerksgesellen ein sehr schwerer Weg. Er konnte sich nicht vorstellen, sein Elternhaus zu verlassen und für drei Jahre und einen Tag nicht wieder in die Nähe zu kommen.

Lustlos verließ er seinen Heimatort, wo er alles kannte und wo jeder alles über ihn wusste. Als Steinmetzgeselle ging er von Ort zu Ort weiter und fragte um Arbeit. Aber meistens waren die Baustellen und die Handwerksbetriebe bereits mit genügend Arbeitern versorgt und es war kein Platz für einen umherwandernden Gesellen.

So kam er schnell an die Landesgrenze und hoffte, dass seine Steinmetzfähigkeiten weiter im Süden besser gewürdigt würden. All die großen, altehrwürdigen Bildhauer kamen schließlich von dort. Da würde ein kleiner Handwerksgeselle bestimmt einen Platz in ihrem Schatten finden. Er wurde zu gerne die Werkzeuge reinigen und die Werkstatt putzen – wenn er nur endlich einen Platz bekäme, wo er eine Weile bleiben könnte.

Doch die einzigen Aufträge, die er bekam, waren als Tagelöhner. Einen Tag lang ließen ihn die Maurer ihren Dreck aufräumen – dann stand er mit einem winzigen Lohn wieder auf der Straße.

So kam es, dass er nach wenigen Wochen ganz im Süden angekommen war. Dahinter kam nur Meer. Er stand auf einer Klippe und schaute sehnsuchtsvoll zum Horizont. Seine ganzen Ideen und Hoffnungen hatten sich zerschlagen. Und jetzt hatte er keine andere Wahl, als umzukehren. Denn hier ging es nicht mehr weiter – er war bis ans Ende der Welt gelaufen und hatte nichts von dem erreicht, was er auf seiner Wanderschaft erreichen musste.

Nach langem Grübeln und auf‘s weite Meer starren drehte er sich hilflos um und sah, dass nur wenige Meter hinter ihm ein merkwürdiges Gebäude stand. Eine Art „Tempel“ – rund, mit einem Säulengang außen herum, der das Dach trug.
Es war recht schlicht, verglichen mit den Kirchen und Palästen, an denen er auf seiner Wanderschaft vorbeigekommen war.

Wahrscheinlich war es genau deshalb so anziehend für ihn. Die einfach behauenen runden Säulen, das ganze runde, merkwürdige Gebäude zog ihn in seinen Bann. Fast unbemerkt war er immer näher gekommen. Und schließlich stand er am Fuß der Treppe, die zum Säulengang hinauf führte.

Dort oben saß ein alter, weißbärtiger Mann in einem hellen Kleid mit Kapuze – fast so, wie es die Mönche in seiner Heimat trugen. Vielleicht war das seltsame Gebäude ja eine Kapelle…

Genau danach fragte er den bärtigen Alten: „Guten Tag, ich bin fremd hier. Sagt, ist das hier eine Kapelle?“
Und der Alte antwortete: „Wenn es für dich eine Kapelle sein soll, dann ist es eine Kapelle.“
„Darf ich sie mir ansehen?“
„Was willst du denn dort?“
„Ich bin ein Steinmetzgeselle und möchte sehen, wie die Meister vor mir dieses ungewöhnliche Gebäude gestaltet haben.“
„Was willst du für dich mitnehmen, wenn du in dem Bau warst?“
„Ich weiß nicht. Woher soll ich wissen, was ich dort finde, wenn ich doch noch nicht drinnen war?“

Der alte Mann lehnte sich an die Säule und sagte nur: „Ich glaube, du bist zu jung, um in diesem Gebäude etwas für dich zu entdecken. Geh ins Dorf und suche dein Vergnügen…“

Der Handwerksbursche zog enttäuscht ab. Zu jung, um eine Kapelle zu besuchen…? So ein Unsinn. Was für ein blödsinniger Gedanke war das denn. Er hatte schließlich alles gelernt, was man als Steinmetzgeselle zu lernen hatte. Und dann sitzt da dieser merkwürdige Alte und verbietet ihm, etwas Neues zu entdecken.

Am nächsten Morgen stand er wieder auf der Treppe des runden Gebäudes. Auf der Treppe saß der bärtige Alte in der weißen Kutte und ließ sich mit geschlossenen Augen von der Morgensonne bescheinen.

„He, Alter, lass mich in die Kapelle. Ich will ihr Geheimnis ergründen. Ich bin ein Handwerksgeselle und habe alles gelernt, was ich als Steinmetz wissen muss. Und ich lasse mich nicht von dir aufhalten, noch mehr zu erfahren. Also schließe mir auf, damit ich die Baukunst dieser Gegend mit eigenen Augen sehen kann.“

„Was für eine Rede! Du bist nicht nur zu jung, du bist auch zu dumm für diese Räume. Und zu schmächtig, um ein guter Handwerksbursche zu sein. Und zu unhöflich, um einen Blick in diese Hallen zu werfen. Und nun verschwinde. Das hier ist nichts für dich!“

Der Bursche trollte sich. Fluchend.

Am nächsten Morgen stand er lange vor Sonnenaufgang vor dem Säulenrundbau. Er hoffte, die Türe aufbrechen zu können und so hineinzugelangen. Ein wenig fühlte er sich bei dieser Idee schuldig, denn er wusste ganz tief in sich, dass alle Vorwürfe des alten Mannes auf ihn zutrafen. Wie oft in seinem Leben hatte er gehört: Du bist zu jung dafür. Und: Du bist zu dumm dafür. Und: Ein guter Handwerker wirst du nie, dafür bist zu schwächlich und zu schmächtig.
Nicht zuletzt hatte er eindrucksvoll den Beweis geliefert, wie unhöflich und respektlos er dem Alten gegenüber war, der wohl als Mönch oder Priester seinen Respekt verdient hätte.

Nun wurde er auch noch zu einem Einbrecher. Wer weiß, vielleicht würde er sogar noch schlimmere Dinge anstellen als die verbotene Türe zu öffnen.

Das Herz wurde ihm schwer. Alles, wirklich alles, was er an schlechten Eigenschaften hatte, zeigte sich auf dieser vermaledeiten Reise. Und er konnte sich selbst nicht respektieren, während er eine Stufe nach der anderen zögernd und mit großer Angst hinauf ging.

Auf jedem Schritt fühlte sich sein Körper schwerer und bedrückter an. Und als er oben an den Säulen ankam, war ihm, als hätte er den ganzen Tag auf der Baustelle schwer gearbeitet.

Und doch, er konnte nicht anders.

Zaghaft berührte er die Türe. Und sie schwang laut knarrzend auf.

Eine einzelne Kerze leuchtete auf einer hohen Säule im Zentrum des runden Raumes, von dem weitere fünf Türen abgingen. Der Lichtschein erhellte nur dürftig das stockdunkle Gebäude. Er wollte sich die Kerze nehmen, um den Raum zu erkunden – doch sie war so hoch oben, dass er nicht danach greifen konnte. So stand er in der Mitte des dunklen Raumes und fühlte sich hilflos, machtlos und fehl am Platze.

Der alte Mann sprach ihn von der Eingangstüre her an und fragte: „Was willst du hier finden?“

Und der Bursche antwortete: „Ich weiß es nicht, Herr… Ich weiß nur, dass es nicht das ist, was ich mitgebracht habe.“

„Das ist eine sehr gute Antwort. Ich werde dir die Räume zeigen, einen nach dem anderen. Du wirst sie nicht verstehen. Nicht heute, denn heute ist alles noch im Dunklen.
Kannst du damit leben, die Räume zu erspüren, ohne sie zu verstehen?“

„Ich weiß es nicht, Herr. Aber ich werde es nur beantworten können, wenn ich es versuchen darf.“

„Das ist eine weitere sehr gute Antwort. Komm her.“

Die erste Türe auf der linken Seite öffnete sich mit einem lautstarken markerschütternden Quietschen, als der Alte sie nur sanft berührte.

„Geh hinein, Bursche, und spüre.“

Es war stockdunkel in diesem Raum. Und sehr bedrückend. All die Gedanken waren gleichzeitig da: Ich bin zu jung. Ich bin zu schwach. Ich bin nicht gut genug. Ich bin doch nur ein kleiner Handwerksgeselle. Ich kann nichts richtig. Und ich fühle mich so hilflos, allein, traurig, heimatlos, …

„Komm heraus und lass alle diese Gedanken im Raum zurück. Sie sind nicht deine!“

Und als er über die Schwelle zurück ins Kerzenlicht trat, merkte er, dass die bedrückenden Gedanken hinter ihm zurückblieben. Er konnte frei atmen und sich im Licht der Kerze wahrnehmen.

„Was war das?“ fragte er. Und der alte Mann antwortete: „Das ist der Raum der Überzeugungen, die zurückgelassen werden können.“

„Dann möchte ich, glaube ich, die restlichen Räume doch lieber nicht kennen lernen.“

„Du würdest dich um den Reichtum dieses Gebäudes bringen, wenn du jetzt deiner Unsicherheit zum Opfer fällst. Geh zum nächsten Raum und spüre!“

Auch der Raum hinter der zweiten Türe war stockfinster. Er stellte sich hin, wo er die Mitte vermutete und spürte. Die Gedanken kamen: Was, wenn ich mich täusche. Was, wenn ich Dinge denke, die gar nicht stimmen. Was, wenn alle meine Überzeugungen falsch sind. Wenn ich vielleicht gar nicht zu schwächlich wäre – in Anbetracht der langen Reise, die ich schon zurückgelegt hatte. Und wenn ich nicht zu jung und zu dumm wäre…

„Komm heraus und lass alle diese Gedanken im Raum zurück. Sie gehören nicht zu dir!“

Und wieder blieben alle diese Gedanken hinter der Schwelle des Raumes. Er fühlte sich beim Anblick der Kerze wie befreit.

„Sagt, Herr, was war das?“

„Das ist der Raum des Zweifels. Jeder Gedanke hat mehr als eine Seite, und du hast gespürt, dass du ihn jederzeit neu denken kannst. Und nun tritt in den nächsten Raum ein und spüre.“

Der Raum hinter der Türe, die dem Eingang genau gegenüber lag, fühlte sich ein wenig größer an. Und obwohl er in völliger Dunkelheit lag, war spürbar, dass darin große Gegenstände standen. Der Bursche stieß sich an einem hohen Sockel und merkte, dass darauf eine eigenartige Statue stand – viel größer als er und sehr fein behauen. Er spürte, dass hier viele Menschen vor ihm waren und dass von dem Raum eine Schwere und zugleich eine Leichtigkeit ausging, die ihn erfasste.

„Komm heraus. Das ist nicht für dich. Es ist noch nicht Zeit.“

Und im Licht der Kerze, die im Zentrum des Gebäudes leuchtete, fühlte der Bursche, dass in diesen Räumen Wissen zu finden war, das man nicht sehen und nicht hören konnte.

„Das war der Raum des Loslassens, nicht wahr, Herr?“

„Wenn er das für dich ist, wird er das für dich sein, Bursche.“

„Aber Herr, sagt, was kommt danach?“

„Tritt ein und spüre.“

Der Raum hinter der nächsten Türe hatte einen zarten Glanz, den man nicht sehen sondern nur erahnen konnte. Was darin war, war wahr. Und der Bursche strengte sich über alle Maßen an, um den Gedanken zu erkennen, den er hier denken sollte. Doch in seinem Kopf war – nichts.

„Komm heraus. Du kannst nichts erzwingen. Und du bist nicht bereit.“

Enttäuscht kam der Bursche zurück in die Mitte. Es war so angenehm in dem Raum gewesen. Und doch war alles Bemühen umsonst – kein einziger Gedanke kam über ihn.

„Warum konnte ich diesmal nichts erkennen?“

„Das war der Raum der neuen Überzeugung. Sie wartet dort auf dich und du wirst sie bald bekommen.“

„Und der nächste Raum?“

„Finde es heraus.“

Die Türe glitt mühelos auf und der Bursche spürte die Sicherheit, die dort auf ihn wartete: Jeden Tag geht die Sonne auf und wieder unter. Regen fällt vom Himmel zur Erde. Im Frühjahr ist die Aussaat um im Herbst die Ernte. Das Senkblei ist hundertprozentig senkrecht und der Meißel ist das Werkzeug des Steinmetz.

„Komm heraus. Es ist nicht deine Überzeugung. Noch nicht.“

„Aber es war schön dort. Was ist der Name dieses Raumes?“

„Er hat keinen Namen. Doch er enthält das, was absolut und unumstößlich wahr ist. Für dich.“

„Es war schön dort.“

Der alte Mann schmunzelte – es war deutlich zu sehen im Kerzenlicht, aber auch deutlich in seiner Stimme zu hören: „Du hast noch eine große Erkenntnis vor dir. Und nun geh. Für heute hast du alles entdeckt, was es für dich zu entdecken gibt. Geh nach draußen.“

Und als der Bursche durch die Türe trat, durch die er gekommen war, da lag dahinter das weite Land, das Meer und darüber spannte sich ein vom Morgenrot glühender Himmel, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Er blieb auf der Treppe stehen und betrachtete atemlos die Weite der Welt um ihn herum. Und staunte.

An diesem Tag gelang ihm alles. Er fand einen Steinmetz-Meister, der ihn in seine Werkstatt aufnahm und ihm die Möglichkeit gab, an einem bedeutsamen Auftrag mitzuwirken. Er fand eine Herberge, die fast ein wenig wie Zuhause war. Und dort wohnte neben den Wirtsleuten auch deren Tochter, die er auf den ersten Blick gut leiden konnte. Er hatte zu Essen, zu Trinken – und er hatte den Tag über ein tiefes, volles Gefühl der Dankbarkeit in sich.

Nach ein paar Tagen bat er seinen Meister, ob er wohl nach dem Feierabend die Werkstatt benützen dürfte, um eine Statuette für sich selbst zu fertigen. Und der Meister erlaubte es nicht nur, er schenkte ihm auch einen wundervollen Marmorblock, der bei der großen Statue als Abfall übriggeblieben war.

Er wusste nicht, was er aus dem wertvollen Material anfertigen würde. Und auch nicht, warum.
Ohne Vorskizze, ohne eine genaue Idee fing er an, vorsichtig den Marmorblock zu beklopfen. Und zu enthüllen, was darin verborgen war.

Abend für abend benutzte er die feinsten Werkzeuge, um das Geheimnis im Marmor zu erkennen. Und nach vielen Abenden wusste er, dass es fertig war.

Oh, er war nicht zufrieden damit. Es war nichts erkennbar – keine Menschengestalt, kein Tier, nicht einmal ein Ornament. Und es war auch nicht richtig rund und nicht richtig eckig geworden. Ein Stück Stein – unperfekter als im unbearbeiteten Zustand. Auch hatte er es nicht so richtig polieren können, denn als er soweit war, war der Schleifstaub ausgegangen. Und deshalb hatte es nur ein paar unförmig glänzende Stellen und ganz viel rauhe Oberflächen. Alle Spuren der Werkzeuge waren sichtbar.
Er versteckte sein „Werk“ vor dem Meister und den Kollegen. Was hätten die gelacht, wenn sie gewusst hätten, dass er all seine Freizeit dafür verschwendet hatte, dieses Stück Stein freizulegen, das nicht schöner war als ein lächerlicher Flusskiesel.

Am nächsten Tag stand er lange vor Sonnenaufgang mit seinem Marmor-Stück vor der runden Kapelle. Er wusste nicht, was er dort wollte – aber ebenso, wie er sich beim Erstellen seines Werkstückes führen ließ, ohne es recht zu wissen, wurde er auch hierher geführt.

Der alte Mann hielt ihm die Türe auf und wies auf den ersten Raum, den Raum der Überzeugungen, die zurückgelassen werden können.

Der Steinmetzgeselle stellte sich in die Mitte und spürte alle seine Überzeugungen über sich und die Welt um ihn herum, während er seine unvollkommene Statuette mit beiden Händen ganz fest hielt. Er wurde so schwach dabei, dass ihm der Marmor polternd aus den Händen fiel und er selbst langsam ebenfalls zu Boden sank. Immer schwächer wurde er, bis endlich der alte Mann eintrat, die dicke Kerze in der Hand. In ihrem Schein sah der Bursche einen riesigen Jutesack neben einer Türe stehen, die direkt in den nächsten Raum führen würde, in den Raum des Zweifels.

Der alte Mann ging voran und stellte die Kerze in die Mitte. „Nimm deinen Stein und deinen Sack voll Überzeugungen und komm.“

Der Bursche war so geschwächt von all den Gedanken, die ihn überfallen hatten, dass er kaum den Marmor festhalten konnte. Den Sack konnte er keinen Millimeter anheben, und so schob er ihn mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, ins Zentrum des zweiten Raumes zu der Stelle, an der die Kerze stand.

Es tat gut, in diesem Raum zu sein, wo jeder Gedanke auch eine andere Seite hatte. Was, wenn alles, was im ersten Raum die erdrückende Wahrheit war, doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet anders wäre. Was wäre, wenn es mehr als eine Wahrheit gäbe – und dahinter noch weitere Wahrheiten, die alles stimmen können…

„Pack deinen Sack aus und sieh dir alles im Licht der Kerze genau an.“

Oh, da waren ein paar schlimme, bedrückende Gedanken dabei. Und manche Überzeugung, die zum ersten Mal ans Licht kam. Selbstvorwürfe und Schuldgefühle kamen heraus. Und mancher unterdrückte Schmerz.

Wenn sie eine Weile im Licht waren, wurden sie kleiner. Doch, merkwürdig, bei manchen, die besonders bewegend waren, wurde das Marmorobjekt ein wenig größer. Manchmal wurde eine Stelle matter, manchmal glänzender… Manche Kanten wurden klarer, manche Rundungen weicher…
Aber vielleicht sah das auch nur im Kerzenlicht so aus. Wer weiß…

Schließlich war der Sack leer. Alles war vom Licht beschienen worden, nichts war mehr verborgen.

Vieles war im Raum des Zweifels in einem neuen Licht erschienen. Manches entzog sich dem Zweifel – gar zu fest war der Glaube.

„Nimm das Objekt deiner Oberzeugungen und komm.“

Der Bursche nahm seinen Marmor – schwer war er geworden und irgendwie fremd – und trug ihn durch die Verbindungstüre in den nächsten Raum, in dem sich schon viele Objekte auf den verschiedenen Sockeln befanden. Verschiedenste Säulen warteten noch darauf, von einem Gegenstand geschmückt zu werden. Wie ein Museum voller Kunstobjekte sah der Raum im Licht der Kerze aus.

Der alte Mann ging herum und zündete weitere Lichter an, während der Bursche staunend zwischen den Ausstellungsstücken umherging. So unterschiedlich waren die Objekte – sie waren alle aus vollem Herzen geschaffen worden.

„Was steckt in deinem Marmor?“

„Herr, ich weiß es nicht. Es ist alles, was ich in diesen langen Abenden in der Werkstatt war. Und alles, was in dem Steinblock versteckt war. Und noch so viel mehr… – Herr, verzeiht mir, aber ich kann die Frage nicht beantworten.“

„Brauchst du es weiterhin?“

„Ich weiß es nicht. Es ist mein Werk – auch wenn ich es nicht leiden kann. Es steckt manches darin, was wertvoll ist. Und manches, was ich wirklich nicht mehr brauche. Ich kann nicht entscheiden, ob es wertvoll oder unbrauchbar ist. – Herr, ich verstehe das alles nicht. Hier stehen so viele Objekte, und ich finde alle schön, auf ihre unvollkommene Weise. Nur meines fühlt sich so falsch und unfertig an…
Ich möchte jetzt gehen, denn ich schäme mich mit meinem Werk in diesem Museum zu sein.“

„Kannst du es auf einen Sockel stellen, ins Licht, bevor du gehst?“

Der Bursche zögerte. Lange. Es kam ihm vor, als ob Stunden vergingen. Dann antwortete er ganz leise:

„Ich könnte es versuchen.“

Und er ging zu einer schlanken, eleganten Säule, und stellte seinen Stein ab.

„Nein, das geht nicht.“

„Dann versuch es weiter.“

Von einer Säule, einem Sockel, ging er zum nächsten. Mit jedem neuen Versuch spürte er besser, wie die Basis seines Werkes beschaffen sein sollte. Und schließlich fand sein Werk den richtigen Platz.

Er konnte es auf diesem Sockel ansehen und die Schönheit erkennen, die er in all den anderen unvollkommenen Werken längst entdeckt hatte. Und es war genau richtig.

„Nun kannst du in den nächsten Raum gehen.“

Der Bursche wollte sein Objekt, das er nun endlich mögen konnte, mitnehmen.

„Lass es hier, es hat seinen Platz gefunden. Nun wird es Zeit, dass du in den Raum der neuen Überzeugung gehst. Der alte Stein würde dich nur behindern.“

Als der Bursche durch die nächste Verbindungstüre trat, fühlte er sich unendlich leer und irgendwie nackt. Das leichte Strahlen des Raumes war wieder da – und obwohl der alte Mann die Kerze diesmal nicht mitgebracht hatte, war es hier nicht dunkel, sondern genau so, wie es sein sollte.

Es gab wie beim ersten Besuch in diesem Raum keinen Gedanken. Und so setzte sich der Junge ins Zentrum und genoss es, einfach da zu sein.

Und ohne dass er sich besinnen musste, war da dieses Gefühl: Ich bin genau richtig, wie ich bin. Der Moment ist vollkommen, wie er ist. Was ich in diesem Moment kann ist genau das, was ich in diesem Moment brauche.

Und weil er ihnen erlaubte, einfach da zu sein, wurden die Gefühle immer mehr zu seinen. Je mehr er sie ziehen ließ, desto tiefer fühlte er sie.

Als er schließlich nach einer langen stillen Zeit aufstand, öffnete er den Durchgang zum Raum der absoluten Überzeugung, in dem er spürte: Er war erwachsen geworden.

Ganz aufrecht stand er da in der Mitte, während er all seine eigenen absoluten Überzeugungen und den festen Glauben aller anderen Menschen erlebte.

Lange stand er da.

Und schließlich öffnete er die letzte Türe und trat nach draußen in den Säulengang, der im hellsten Sonnenlicht lag, hin zu der Treppe, über die er zuvor gekommen war.

Er setzte sich neben den alten Mann, der dort wartete, und schwieg lange. Gemeinsam schauten sie in die Ferne.

Schließlich spürte Matthias in sich eine Frage.

„Warum finden nicht alle Menschen hierher?“

„Es ist nicht immer der rechte Moment.“

„Und ich…?“

„Lasst mich euch ein paar Fragen stellen, junger Herr…“

„Fragt, weiser alter Mann.“

„Was nehmt ihr mit, wenn ihr nun von hier in die Welt geht?“

„Ein weites Herz mit viel Raum für Erkenntnisse jenseits der alten Überzeugungen. Und das Wissen, dass meine Wahrheit nicht jedermanns Wahrheit ist. Und eine Weisheit… Verzeiht Herr, das soll nicht respektlos sein… Eine Weisheit, die mir helfen wird, meine Überzeugungen nie als unabänderlich zu sehen – und die Wahrheit der Anderen nie als falsch.“

„Das ist nicht respektlos. Das ist weise.“

Und nachdem der weise alte Mann lange nichts weiter gesagt hatte, fragte er den jungen Mann:

„Was werdet ihr mit eurer Weisheit anfangen, um sie zum Nutzen einzusetzen?“

„Ich werde meine Reise fortsetzen. Noch liegen mehr als zweieinhalb Wanderjahre vor mir – und ich werde unzählige Menschen treffen, die ich noch nicht kannte. Jeder wir mein Lehrer sein.
Wenn dann die Wanderschaft zu Ende ist, werde ich in mein Heimatland gehen und mir dort meinen eigenen Platz suchen. Denn ich bin mehr als das Kind meiner Eltern, mehr als der Schüler meiner Lehrer und mehr als der Lehrling meines Meisters geworden.
Und ich werde meine ganz eigenen Überzeugungen leben. Wenn ich jemals einen Sohn haben werde, soll er durch mich erfahren, was ich durch euch erfahren habe, weiser Herr.“

„Junger Herr, ihr wisst, dass euere alten Überzeugungen hier einen Raum gefunden haben, in dem sie in Schönheit bestehen bleiben. Ihr braucht keinen Tempel, keine Kapelle und kein Museum, um einen Glauben zu verabschieden, der unbedeutend geworden ist.
Geht jeden Schritt eurer weiteren Reise in dem Bewusstsein, dass ihr immer ein Stück Weg zurücklasst, um voranzukommen.
Ihr werdet eine gute Reise haben. Lebt wohl und glücklich, junger Herr.“