Selektiver Mutismus in der „Psychologie heute“

Christine Winter // Mutismus

17. Juli 2014  

„Das schweigende Kind“

Unter dieser plakativen Ãœberschrift und einem ganzseitigen Foto von einem traurig-scheu guckenden Mädchen im Kindergartenalter ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Psychologie heute“ ein Bericht über selektiven Mutismus erschienen:

„Manche Kinder schweigen. Im Kindergarten, in der Schule, auf dem Kindergeburtstag – während sie zu Hause munter drauflosplappern.
Warum tun sie das? Und wie kann ihnen geholfen werden? …“

Ursachen des Schweigens

Selektiver Mutismus wird von der Autorin des Textes (unter Verweis auf den amerikanischen Diagnosekatalog DSM-V) als komplexe Angststörung bezeichnet. Das Schweigen ist demzufolge ein Vermeidungsverhalten, um die Angst vor dem Sprechen zu umgehen.

Dass das Schweigen dazu dient, eine für das Kind belastende Situation zu vermeiden, sehe ich genauso. Und meinetwegen kann man das Erleben des Kindes auch als „Angst“ bezeichnen – wobei mir „Überforderung und Stress“ bei Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter zutreffender vorkommt. Ich selbst erinnere mich nicht an Angst vor dem Sprechen, bevor ich neun oder zehn Jahre alt war. Ich konnte nur einfach nicht…

Die Ansicht, es handle sich um eine konkrete Angst (Phobie) finde ich dennoch hilfreich, sofern sie deutlich macht, dass das Schweigen nicht dem Willen unterliegt. Das wird in dem Artikel erfreulicherweise auch nochmal klargestellt:

„Keines dieser Kinder schweigt vorsätzlich. Sie alle wollen reden.“

Wenn mir eines bei Berichten über kindlichen Mutismus wichtig ist, dann das: Sie schweigen, weil sie nicht anders können.

Hilfe mit Verhaltenstherapie

Für die frühzeitige und intensive Behandlung wurde am Child Mind Institute  in New York eine Intensiv-Gruppentherapie für drei bis achtjährige Kinder entwickelt. Das Programm heißt Brave Buddies („mutige Freunde“) und wird zusammenhängend als mehrtägiger Block oder tageweise mit längeren Abständen dazwischen angeboten.

Jedes Kind wird in seinem eigenen Tempo von einem dafür geschulten Mitarbeiter unterstützt und an die Gruppe und die Aufgaben herangeführt. Teil des Konzeptes ist, keine Fragen an die Kinder zu stellen, die das Kind in Zugzwang bringen und damit Druck aufbauen. Statt dessen lässt sich der Betreuer auf das Kind ein, nimmt dessen Kontaktangebote auf und zeigt seine Begeisterung, so dass das Kind sich entspannen und eine (nonverbale oder verbale) Beziehung aufbauen kann.

Ich finde dieses Konzept aus mehreren Gründen interessant:

  1. Hier geht es nicht um eine endlose Therapie, sondern um fünf Tage, die einem normalen US-amerikanischen Schultag möglichst ähnlich sind, und in denen möglichst ohne Überforderung einige Veränderungsimpulse gegeben werden.
    Außerdem werden einzelne Therapie-Tage angeboten.
    Ich fände eine Konzeption mit mehreren Tagen im Abstand von jeweils vier bis sechs Wochen noch sinnvoller. Dadurch hätte das Kind die Möglichkeit, sich von einem Termin zum nächsten in seinem Tempo weiterzuentwickeln.
  2. Das Programm setzt darauf, dass das Kind alle nötigen Fähigkeiten hat und in einem geeigneten Rahmen auch zeigen wird. Dabei beachtet jeder einzelne Begleiter für „sein Kind“ die individuellen Bedürfnisse und vor allem das individuelle Tempo.
  3. Das Kind wird nicht durch offene Fragen zum Sprechen gedrängt, sondern durch wertschätzende Aussagen unterstützt. Der Betreuer gibt ihm die Freiheit, zu entscheiden, ob, wann und wie sich das Kind mitteilt.
  4. Mit Sicherheit entsteht in der Gruppe von bis zu 24 Kindern (!) eine Gruppendynamik, die „wie von selbst“ Erfolge fördert und verstärkt.
  5. Während die Kinder in der Gruppe betreut werden, erlernen die Eltern die Methoden, mit denen die Betreuer arbeiten. So wird das Konzept in den Alltag transportiert und ist eben nicht nur Therapie, sondern eine echte Chance zur schrittweisen Veränderung.

Fazit: Lesenswerter Artikel, spannender Therapieansatz

Ein lesenswerter Artikel, der in der August-Ausgabe 2014 der „Psychologie heute“ erschienen ist (leider mittlerweile nicht mehr im Internet verfügbar). Die Darstellung des kindlichen selektiven Mutismus ist knapp und dennoch eindrücklich und nachvollziehbar. Die beschriebene „Brave-Buddies“-Therapie finde ich als Ansatz zum Weiterdenken hochinteressant.

Meine Gedanken dazu kannst du im nächsten Beitrag weiterlesen.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine