Sag niemals NIE…

Christine Winter // Leserthemen

5. September 2016  

Im August fand auf der Facebook-Seite von Stille-Stärken.de die „August-Challenge“ statt. Die Herausforderung war, jeden Tag im August etwas Neues auszuprobieren – und darüber dann einen kleinen Kommentar auf Facebook zu posten.

Da kamen viele spannende Ideen zusammen. Zum Beispiel auf Moosgummi-Bällen liegen, im Freien übernachten, spontan Leute treffen, Cornhole spielen, neue Radiosender ausprobieren… Und immer wieder ungewohnte Wege gehen, außergewöhnliche Sachen essen und gewöhnliche Aufgaben anders als sonst erledigen.

Dabei ging es uns überhaupt nicht darum, besonders spektakuläre Aktionen zu schaffen, sondern es ging darum, ein kleines Bisschen kreativer durch den Alltag zu gehen und dabei einmal am Tag die eigenen Routinen zu verlassen.

Ich habe mich sehr gefreut, dass auch Simone sich an der Aktion mit vielen Ideen beteiligt hat. Und über ihre herausforderndste „Kenn-ich-nicht-probier-ich-aus“-Idee hat sie den heutigen Gastbeitrag für meinen Blog geschrieben. Das freut mich noch viel mehr.

Simone habe ich zum ersten Mal vor etwa zwei Jahren gesehen. Und zwar auf YouTube. Dort hat sie einen eigenen Kanal – „MutismusVideoOnline“ – und in ihren Videos erzählt regelmäßig auf ihre beeindruckend authentische Weise ihre Gedanken direkt in die Kamera.

Dass wir uns vor ein paar Wochen auch persönlich kennenlernen konnten, hat mich besonders gefreut, denn Simone hat Selektiven Mutismus – und deshalb war das Treffen mit mir für sie keineswegs selbstverständlich (obwohl sie schon den größten Teil des Weges raus aus den Sprechblockaden zurückgelegt hat).

Mit einem einem Abenteuer, das sie spontan im Rahmen der „August-Challenge“ unternommen hat, hat sie ihre Komfortzone ein großes Stück weit verlassen und sich einen großen Schritt weiterentwickelt.
Wie das war, erzählt Simone selbst in ihrem Gastartikel.

Plötzlich Unbekanntes an sich selbst entdecken

Vor ein paar Tagen hatte ich ein Erlebnis, das ich normalerweise nicht gehabt hätte…
Nun war ich aber doch trotz mulmigem Gefühl und „Ach, bleib doch besser zu Hause, du bist doch verrückt”-Gedanken auf dem Weg.

Das erste, was ich an mir selbst Fremdes entdeckte, war, dass es sich bei meinem Ausflug um die Ankunft der Fußballnationalmannschaft in Düseldorf handelte.
Ich und Fußball? Neee!

Ich hatte die EM geguckt und, naja, irgendwie interessierte mich das jetzt doch etwas…

In der Nacht hatte ich zufällig die Meldung über die Ankunft im Hotel gelesen. Und es würde eigentlich auch in meinen Zeitplan passen, einen „neugierigen Beobachter” zu spielen… Warum dann nicht!?

Da war das mulmige Gefühl, die plötzliche Aufregung… Und dann, pünktlich um 11 Uhr, saß ich im Bus auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Komisch, tagsüber schon unterwegs zu sein, und die Leute, die Gespräche und das bunte Treiben wahrzunehmen, da ich eher nur gegen Abend das Haus verlasse.

Dann stiegen in mir als Mutismus-Betroffener viele dringliche Fragen hoch: Wo man zur Toilette gehen kann. Wie so ein Empfang abläuft. Ob da andere Leute als die Presse überhaupt zugucken dürfen. Ob das komisch ist, als Einzelperson da aufzutauchen. Wie das da wohl aussieht. Ob man Fotos machen darf und wie man Autogramme bekommt. Musste nicht sein, aber von Jogi Löw hätte ich gerne mal eins gehabt oder ein Selfie. Aber ob ich das hätte sagen können? Womöglich auch noch was mit „Sie” oder „Herr Löw“? Oh mein Gott!

Die ganze Zeit war ich schon zittrig, nur die Musik auf meinem MP3-Player schaffte es, das Adrenalin wieder etwas zu senken…

Und wie es kommen musste, musste ich am Bahnhof direkt auf die Toilette. In der S-Bahn würde es kein Klo geben, also rein in den Bahnhofsbackshop und fragen, ob ich den Toilettenschlüssel bekomme. Die Situation war auch noch anders als üblich, da zwei Personen um mich herumstanden und ich nicht so schnell checken konnte, wen ich denn jetzt fragen „muss”. Ähm… Es wirkte wohl etwas unsicher, ich fühlte mich so fremd, weil ich so etwas kaum mache, aber naja, Plan wurde nun durchgezogen.

Nachdem das geschafft war und ich schließlich in Düsseldorf ankam, fuhr ich direkt auch zum ersten Mal Straßenbahn durch mir zuvor unbekannte Straßen, wobei diese immer leerer an Menschen wurden.
Ich würde doch nicht etwa alleine bei diesem Empfang da komisch vor dem Hotel rumstehen müssen?

Am Medienhafen angekommen befand sich links neben mir eine riesige Baustelle und rechts riesige Bürokomplexe sowie kein Mensch in der Umgebung – etwas Unheimlich!

Nun entdeckte ich ein Schild für das Parkhaus vom Hotel, dem ich dann zugleich mal folgte. Das musste ja die richtige Richrtung sein. Irgendwie lief ich an einer Straße mit „Hintereingängen” entlang, es musste zwar auch eine Vorderseite geben, aber die hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht entdeckt. So kam ich dann auch ein einem riesigen Tommy Hilfiger Shop vorbei, als ich in der nahen Ferne eine kleine Menschentraube und Reporter vor einem schwarzen Gebäude entdecken konnte.

Als ich ebenfalls dort ankam – klar: Rechts stand der Mannschaftsbus und ich blieb stehen und machte ein Foto – wie ein paar wenige andere Menschen auch.

Und jetzt? Sollte ich mich zu den Menschen seitlich vom Eingang stellen oder war das nur für die Presse? Durfte man da einfach hin? Guckten nicht die Männer in den schwarzen Anzügen mit Sonnenbrille, wo ich mich hinbewege? Mache ich irgendwas Verbotenes?

Ich beobachtete, wie ein paar Andere zu den Menschen, die seitlich hinter der Hotelabsperrungskette gingen, also ging ich auch hin.

Da passierte es. Nach und nach wurden die Spieler einzeln mit einem Fahrerservice-Auto mit schwarzen Scheiben gebracht, die dann ausstiegen und an der Presse und den Fans vorbei gingen. Die Presse fotografierte und filmte jedesmal und versuchte ein paar Interviews zu bekommen. Und die Fans sammelten Unterschriften und machten Selfies.

Nein, ich konnte mich nicht nach vorne drängeln oder die Namen der Spieler rufen. Ich hielt mich lieber auf Abstand, das war mir schon nah genug.

Schließlich setzte ich mich auf die Stufen, wo auch die Presseleute saßen und bekam etwas von deren Arbeitsweise mit. Aha, auch interessant …

Leider nahm dann Herr Löw und einige andere Spieler nach der Ankunft von der Pressekonferenz den anderen Eingang.
Naja, auch verständlich, dass man nicht immer „öffentlich” sein möchte.

Als die Mannschaft wohl komplett war, wurden auch die Leute wieder weniger und nur ein paar Mütter mit Kindern und Autogrammsammler warten noch vor dem Hotel darauf, dass die Mannschaft nochmal rauskommt. Dabei guckte ich mir die „schicke” Umgebung nochmal an bis mich eine Frau fragte, „auf wen die junge Dame denn wartet?”

„ …” – Es kam erstmal nur eine Geste àla „weiß nicht” raus und: „Ähm … so allgemein… guck ich mal wer noch raus kommt”.

Danach wurde ich zwar in Ruhe gelassen. Aber komisch, dass ich mich plötzlich so blockiert mutismusmäßig verhielt. Das wollte ich doch gar nicht.

Trotzdem machte ich mich dann nach weiteren 40 Minuten dann auf den Rückweg und fand auch den eigentlich richtigen Weg am Binnenhafen zurück zur Straßenbahnhaltestelle.

Wieder zu Hause kam es mir so vor, als wäre ich eine Woche im Urlaub gewesen. Alles war so fremd, und ich war noch ganz eingenommen von den ganzen Eindrücken.

Plötzlich fand ich Fahrerservice-Autos oder weiße Mercedes „cool”. – Ich und Autos? Normalerweise keine Ahnung sowie kein Führerschein.

Oder wie wär das mal bei Tommy Hilfiger was zu kaufen? Oder in so einem Luxushotel zu übernachten?

Interessant … was es noch so alles gibt.

Irgendwie hatte mich das angesprochen, da gibt es also eine Ader, die ich noch nicht an mir kannte …

Möchtest du mehr von Simone lesen?

In ihrem autobiografischen Buch „Das Mundschloss“ schreibt Simone über ihr Leben mit Selektivem Mutismus.


Und erst vor wenigen Tagen ist ihr Buch „Mutismus: Angst vor …!? – Einer Erklärung auf der Spur“ erschienen.