Wenn der Stress auf den Alarmknopf haut

Christine Winter // Persönliche Entwicklung

20. April 2015  

Im Moment springt mich von allen Seiten das Thema Stress an. In einer Facebook-Gruppe, im Mutismus-Forum, im Bekanntenkreis… Und, auch wenn ich mir das nur ungern eingestehe, ganz massiv bei mir persönlich.

Nachdem ich gestern abend eine leichte Panikattacke – ja, ich weiß gut von früher, wie sich echte Panik anfühlt – beim Betrachten meiner Liste von dringenden Aufgaben für diese Woche bekam, ist es an der Zeit, mich ausführlich mit dem Thema Stress zu beschäftigen.

Stress hat doch jeder…

Jeder spricht von seinem Stress. Es ist normal (und in Beruf – Studium – Schule geradezu ein „Statussymbol”), von sich zu sagen, dass man gerade tierisch gestresst ist.

Probier doch mal aus, was passiert, wenn du mit entspanntem Lächeln jemandem erzählst, dass du im Moment einfach nur vor dich hin lebst, ganz ohne Anstrengung und vergnügt eines nach dem anderen machst und dabei echt viel Spaß hast. Ich wette, dass die Leute um dich herum alles mögliche probieren, um dir sofort ein schlechtes Gewissen einzureden.
Denn sowas ist allenfalls in einem All-Inclusive-Urlaub in der Karibik erlaubt – wobei: Du solltest da echt auch möglichst viel unternehmen, Sport machen, Sehenswürdigkeiten fotografieren, regelmäßig deine Mails checken und ein gutes Sachbuch lesen…
Einfach so in den Tag hinein leben geht ja mal gar nicht, oder?

Ich frage mich schon länger: Warum eigentlich nicht jeden Tag leben, wie er kommt? Und dann lasse ich mich doch immer wieder dazu bringen, fünf Sachen gleichzeitig zu machen und noch zusätzliche „Herausforderungen” oder „Verpflichtungen” anzunehmen, die mir von anderen aufgedrückt werden. Schließlich macht man sich irgendwie verdächtig, stinkfaul zu sein, wenn man nicht eine endlose Liste an ToDos aufweisen kann. 🙁

Stress gehört unweigerlich zum Leben dazu

Das stimmt – und auch wieder nicht.

Ganz ohne Gas zu geben macht das Leben keinen Spaß. Ein bisschen Herausforderung muss sein – idealerweise gerade so viel, dass es so richtig motivierend ist. Dafür hat sich der Begriff „Flow” eingebürgert, also der optimale Mittelweg zwischen Langeweile und Überforderung. In diesem Zustand macht eine Tätigkeit so viel Spaß, dass man nur unter Protest damit aufhört.

Wenn du schon mal ein Computerspiel gespielt hast, kennst du das. Du möchtest „nur noch schnell bis ins nächste Level” – und bis du schaust, sind Stunden (oder ganze Nächte) vergangen. Die Spieleprogrammierer sorgen gezielt dafür, dass du im Flow alles um dich herum ausblendest.

Aber das gute Gefühl, sämtliche genau richtig dosierten Herausforderungen zu bewältigen, führt beim Zocken auch ganz schnell dazu, dass du vergisst, zu essen, zu trinken und zu schlafen. Und dann hat der Körper Stress und versucht, dich immer deutlicher auf deine Bedürfnisse aufmerksam zu machen – was ja auch sein gutes Recht ist, nicht wahr?

Zusätzlich packt das Leben aber noch eine Menge zusätzliche Stressoren oben drauf: Lästige Alltags-Kleinigkeiten, ein schlechtes Gewissen für viele aufgeschobene und mittlerweile dringend gewordene Aufgaben, ein ungutes Gefühl wegen der unklaren Zukunftsaussichten, ein leises Grauen wegen der Bilder und Geschichten von weltweiten Katastrophen im Fernsehen, einen ekligen Chef/Prof/Lehrer, nervige Eltern/Nachbarn/Bekannte, eine Beziehung, die irgendwie schon mal romantischer war…

Und ganz schnell hat man ein Stresslevel erreicht, das auf Dauer ein bisschen ungemütlich ist – aber irgendwie dennoch normal, weil es schließlich jedem so geht.

Manchmal setzt das Leben noch eins drauf und man hat kurzzeitig richtig dollen Stress. Dann steht man für den Moment ganz schön unter Adrenalin, aber das normalisiert sich auch bald wieder, nachdem der Auslöser weg ist. Das sieht aufgemalt ungefähr so aus:

Alles ist noch im grünen Bereich, auch wenn es etwas höher hergeht – die Stresskurve fällt so schnell wieder ab, wie sie gekommen ist.

Immer im Grenzbereich

Es kann aber auch sein, dass man schon von vornherein ein höheres Stresslevel hat. Und dann ist man auch schneller im Grenzbereich. Wenn dann noch etwas zusätzlicher Stress kommt, dann drückt der Körper den Alarmknopf und flutet das System mit einem ganzen Haufen Neurotransmittern, Hormonen und anderen Botenstoffen, die blitzschnell die uralten Programme „Flieh wenn du kannst”, „Kämpfe auf Teufel komm raus” oder „Stell dich tot und hoffe, dass du übersehen wirst” starten. Ich denke, jeder hat eine bevorzugte Variante dieser Programme. Und ich denke außerdem, dass Stille Menschen eher zum Totstellen als zum Kämpfen neigen, wenn sie keinen Fluchtweg finden.

Das Problem ist NICHT, dass mal eben das Flucht-oder-Kampf-oder-Erstarren-Programm gestartet wird. Das ist aus biologischer Sicht gut und sinnvoll, auch wenn es bei vielen von unseren alltäglichen Stressoren nicht unbedingt besonders hilfreich ist, um zu einer nachhaltigen Lösung für die Stresssituation zu kommen.

Das Problem ist, dass der körpereigene Botenstoff-Cocktail nicht sofort wieder verschwindet, nachdem der Alarm wieder aufgehoben wird. Ungefähr so, wie wenn die Feuerwehr nicht gleich wieder abrückt, wenn keine Flammen mehr zu sehen sind. Der Einsatz wird vorsichtshalber noch eine ganze Weile über die akute Situation hinaus aufrecht erhalten.

Über dem Limit

Logischerweise löst neuer Stress den Alarm sofort wieder aus – auch dann, wenn der letzte noch nicht aufgehoben war. Der Stresspegel steigt, der Botenstoff-Ausnahmezustand wird schlimmer und es dauert länger, bis er sich wieder normalisiert. Und so „kommt man nicht mehr runter”, also unter die Alarmschwelle. Man bleibt im Dauer-Ausnahmezustand.

Im beruflichen Umfeld bezeichnet man Kollegen, die kaum noch aus der Katastrophen-Zone kommen, als „ausgebrannt”. Stimmt wohl, die Feuerwehr ist seit langer Zeit im Dauereinsatz und kann akute Stress-Brandherde nicht mehr angemessen löschen. Der Burn-Out führt über einen langen Zeitraum schließlich zum Zusammenbruch.

Und bei Stillen Menschen…?

Viele Stille Menschen erleben schon ein „normales“ Gespräch als stressig. Und mit Sicherheit ist jede Sprechblockade eine Stresssituation. Da wir außerdem dazu neigen, uns auch ohne akuten Anlass sehr viele Gedanken über bevorstehende Gespräche, Referate, Vorstellungsgespräche oder Familienfeste machen, erhöhen wir in unserem Kopfkino auch ohne äußeres Zutun den Stress. Je nach individuellen „Vorlieben” kommen noch weitere Stress-Themen dazu – bei mir zum Beispiel immer wieder gerne die Aufschieberitis und dadurch verursachte Terminschwierigkeiten.

Das bedeutet, dass ich die meiste Zeit nicht im grünen Bereich bin, sondern eh schon nahe an meiner persönlichen Stress-Belastungsgrenze. Und dass es nicht viel braucht, damit ich mit Volldampf in den Grenzbereich rausche. Zum Beispiel, wenn ich die geballte Aufgabenliste für die Woche anschaue.

Der Adrenalin-Stresshormon-Botenstoff-Alarm wird ausgelöst. Ich erlebe Herzklopfen, Schwindel, Kurzatmigkeit, Muskelanspannung. Abhauen wäre jetzt eine gute Lösung – nur kann ich das ja nicht machen, wenn ich am Schreibtisch sitze und meine ToDos durchsehe. Kämpfen ist auch Blödsinn, denn es ist keiner da, und ich bin ja schließlich selber schuld an meinem schlechten Zeitmanagement. Meine „Lösung” ist daher: Tot stellen und hoffen, dass das Problem verschwindet.

Da schließt sich für mich der Kreis zur Sprechblockade. Wenn ich in einer zwischenmenschlichen Situation unter akuten Stress gerate – und früher hat es dafür nur einen allerkleinsten Auslöser gebraucht (zum Beispiel den Gedanken, dass ich gleich etwas antworten muss!) – dann ist meine Lösung: Tot stellen und hoffen, dass der Stressor dadurch verschwindet.

Ich weiß, dass das völlig irrational und unsinnig ist.

Jeder weiß das, wenn er auch nur ein bisschen logisch denkt.

Das Problem ist: Über der Alarmschwelle ist logisches Denken praktisch unmöglich, weil der Körper in einem botenstoffgesteuerten Autopilot-Modus ist. Und erst, nachdem der Alarm schon eine ganze Weile aufgehoben wurde, ist es wieder möglich, „vernünftig” zu denken.

Deswegen kommt man ganz schlecht selber aus einem Burn-Out wieder raus. Deswegen kommt man auch ganz schlecht aus Sprechblockaden alleine raus. Oder aus einer Angst- bzw. Panikstörung.

Da ist es nicht nur sinnlos, mehr Druck aufzubauen, um „normal” zu sein. Es ist sogar die sicherste Methode, um das Problem so lange zu verstärken, bis es zum Zusammenbruch kommt.

Pass auf dich auf – sorge gut für dich

Es ist keine Schwäche, wenn du trotz deiner Probleme nett zu dir bist.

„Disziplin” und mehr Druck hilft dir nicht – was du brauchst, ist Entspannung. Und glaub mir, ich weiß, wie schwer es ist, das zu akzeptieren, wenn man unter Dauer-Alarm steht.

Ich werde dir im nächsten Artikel ein paar Vorschläge machen, wie du deinen Stress verringern kannst – egal, ob du gerade über oder unter der Alarmschwelle bist. Denn Entspannung tut jedem gut und ist eine großartige Vorbeugung, um auch im ganz normalen Alltags-Tralala nicht in den Autopilot-Modus zu rutschen.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine