Warum es so verflixt schwierig ist, sich zu verändern – und warum es schon gleich gar nicht klappt, wenn auch noch Stress dazu kommt

Christine Winter // Persönliche Entwicklung

23. Mai 2016  

„Wenn ich nur anders wäre, würd’s mir besser gehen.“

Unzählige Male habe ich mir das gedacht. Und ziemlich oft habe ich probiert, mich zu verändern. Allermeistens war das Ergebnis, dass ich nach zwei, drei Fehlversuchen frustriert aufgegeben habe und mir Sachen dachte wie zum Beispiel:

„Das war ja wieder so klar, dass ich das eh nicht hinkriege. Ich habe schließlich noch nie etwas wirklich geschafft – sonst würde ich ja jetzt hier nicht so unglücklich festhängen. Und was hat mich eigentlich auf die Idee gebracht, ich könnte etwas an meinem Leben ändern? Wenn das so einfach wäre, dann würd’s ja jeder machen. Neee, jetzt hab‘ ich es kapiert: Man kann halt einfach nichts ändern. Isso. Punkt.“

Heute sehe ich das nicht mehr so und ich weiß, dass das Problem ganz woanders liegt. Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass ich damals einfach nur zu wenig Ahnung von Veränderungen hatte…

Wir sind meistens im „Automatik-Modus“ unterwegs – wieso eigentlich?

Hast du schon mal darauf geachtet, wie viele Sachen du jeden Tag machst, ohne dir darüber Gedanken zu machen? Die alltäglichen Gewohnheiten sind alle so ritualisiert, dass man sie meistens gar nicht bemerkt – außer, wenn es irgendeine Unterbrechung gibt oder etwas Unerwartetes passiert.

Ungefähr 95 Prozent unserer Handlungen laufen unbewusst ab, sobald sie durch einen äußeren Reiz angestoßen werden. Wir haben sie entweder irgendwann mal bewusst gelernt (z. B. Zähneputzen vor dem Schlafengehen) oder wir haben sie ohne bewusste Entscheidung ins Verhaltensrepertoire genommen (z. B. Schokoholikerin sein 😉 ).

Die restlichen ca. fünf Prozent unserer Handlungen steuern wir bewusst. Aber auch dabei spielt all unsere Erfahrung, unser Bauchgefühl und das ganze unbewusst gespeicherte Wissen eine entscheidende Rolle wenn es darum geht, wie wir uns verhalten.

Dass wir so viele automatische Abläufe nutzen können ist enorm wichtig. Wir hätten niemals genügend Entscheidungsenergie, um den ganzen Tag alle Handlungen bewusst zu steuern.

Wenn wir ausschließlich nützliche Angewohnheiten hätten, die uns vollkommen zufrieden machen, dann wäre dieser Text an dieser Stelle schon zu Ende und wir wären alle für immer glücklich und zufrieden mit uns selbst.

Dummerweise entwickeln wir aber im Laufe unseres Lebens automatisch ablaufende Verhaltensweisen, die wir nicht als sinnvoll, hilfreich oder liebenswert ansehen und über die wir unglücklich sind, weil sie sich nicht ändern lassen.

Wieso behalten wir Angewohnheiten bei, obwohl sie uns unglücklich machen?

95 Prozent unserer Handlungen passieren im „Automatik-Modus“ auf der Grundlage von früheren Erfahrungen und aufgrund dessen, was wir glauben. Und auch die restlichen fünf Prozent werden mehr durch unsere Überzeugungen bestimmt, als uns lieb ist.

Nun heißen die Überzeugungen deswegen „Überzeugungen“, weil wir überzeugt davon sind, dass sie unbestreitbar zutreffen.

Alle Gedanken, die wir uns so denken, entstehen auf der Grundlage dieser unbestreitbaren Wahrheiten. Und alle unsere Gefühle bestätigen, dass es sich dabei wirklich um die Wahrheit handelt.

Je öfter das Gefühl den Gedanken bestätigt, desto unumstößlicher wird die Überzeugung. Und je öfter das Gefühl Recht behält, desto mehr verstärkt es sich. Im Gehirn bildet sich unterdessen eine ganz feste Verbindung zwischen dem überzeugten Gedanken und dem Gefühl von „Genau. Isso!“.

Wo ist das Problem mit dem „Isso-Gefühl“?

Das Problem ist, dass unser Gefühl bei Verhaltensweisen „Isso!“ ruft, die uns den Alltag unnötig schwer machen oder die uns und andere an uns stören. Dann ist die Gewohnheit nicht mehr energiesparend, sondern sie macht Stress.

Und genau, wie wir es nicht mitkriegen, wenn uns die Entscheidungsenergie ausgeht, merken wir auch nicht, wenn wir in Dauerstress geraten.

Dauerstress – gerade, wenn man ihn nicht mitkriegt – ist doof. Der Körper ist dann permanent in einem Ausnahmezustand, der für unseren „Dauerbetrieb“ überhaupt nicht vorgesehen ist. Deswegen kann es dann ganz leicht zu Folgeschäden – sprich: Krankheiten – durch die dauernde Überlastung kommen.

Wie war das mit dem Stress eigentlich ursprünglich gedacht?

Da muss ich jetzt ein bisschen ausholen:

Ein Tier in freier Wildbahn kommt plötzlich in eine Situation, die mit tierischem Stress verbunden ist.
Gazelle meets Löwe, zum Beispiel.

Die Gazelle mobilisiert sofort alle Reserven, indem der Körper in den Stress-Modus schaltet, und rennt so schnell sie kann davon.

Der Löwe schaltet ebenfalls sofort in den Stress-Modus und rennt so schnell er kann hinterher.

Mal angenommen, die Gazelle entkommt dem Löwen…

Dann liegt die Gazelle noch einige Minuten im Schutz des Savannengrases, zittert vielleicht noch ein bisschen, während sich der Stress im Körper wieder abbaut und dann – jetzt kommt’s – lebt sie völlig entspannt in den Tag hinein.

Der Löwe legt sich unter den Savannenbaum, sein Stress verflüchtigt sich und er lebt ebenfalls völlig entspannt weiter, als ob nichts gewesen wäre.

Was ist denn beim Menschen anders als bei Gazelle und Löwe?

Wäre die Gazelle ein Mensch, dann würde sie, noch während sie tierisch im Stress ist, die Sache nochmal durchdenken:
Wie kam es, dass der Löwe sie entdeckt hat? Und warum ausgerechnet sie, wo’s doch wirklich jede Menge andere Gazellen geben würde? Bestimmt hat sie irgendetwas an sich, was sie immer wieder in solche Situationen bringt. Löwen gibt es ja buchstäblich unter jedem Baum – von den ganzen anderen Raubtieren, die in der Savanne rumlungern mal ganz zu schweigen. Und wenn man als Gazelle mal einen schlechten Tag hat, dann ist es eh Scheiße – einmal zu langsam weggerannt und schon war’s das. Ja, und dann will man als Gazelle ja später mal Kinder – wie soll das denn gehen? Das Leben ist ja jetzt schon megagefährlich und völlig unplanbar…

Undsoweiter…

Jeder einzelne Gedanke sorgt dafür, dass der Stress sich nach der Löwenbegegnung nicht abbauen kann.

Würde die Gazelle wie ein Mensch denken, wäre sie nicht in der Lage, sich schnell von der Löwen-Begegnung zu erholen. Sie wäre außerdem durch’s „Im-Kreis-Denken“ abgelenkt und würde womöglich zu spät auf neue Gefahr aufmerksam. Natürlich würde sie vorsichtshalber doch erst mal auf Nachwuchs verzichten, wo das Leben so viele Risiken birgt. Und sie würde sich lieber nochmal überlegen, ob sie mit den anderen Gazellen essen gehen will. Vielleicht ist es ja besser, regungslos versteckt für immer im Savannengras liegenzubleiben…

Und wenn der Löwe wie ein Mensch ticken würde?

Scheiße, weg ist die doofe Gazelle. War ja wieder mal soooo klar.
Wieso muss die auch so verdammt schnell sein? Und ich zu langsam? Wenn ich nur EINE Sekunde schneller reagiert hätte, dann hätte ich sie gehabt, die blöde Ziege.
Oder wenn ich ihren schnellen Haken nach links vorhergesehen hätte… Das hätte ich echt wissen müssen: Gazellen weichen fast immer nach links aus.
So, und wie bringe ich das jetzt meiner Frau bei? Die lacht mich doch aus, wenn ich ihr erzähle, dass ich fast eine Gazelle erlegt hätte. Die hält mich schon lange für einen totalen Looser. Warum sonst sollte sie keine Kinder mit mir wollen?

Undsoweiter…

Würde der Löwe wie ein Mensch denken, dann würde er vor lauter Frust glatt die leckere Zebraherde übersehen, die vor seinem Savannenbaum rumsteht. Und vor lauter Selbstzweifeln würde er in Zukunft lieber darauf verzichten, hinter irgendwelchen Tieren herzurennen.

Dumm gelaufen, Löwe.

Wir Menschen sind schon besondere Tiere

Gazelle und Löwe kämen in Echt natürlich im Traum nicht auf die Idee, sich ein Erlebnis wieder und wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Wir Menschen haben genau das ziemlich gut drauf. Wir rufen uns Bilder, Szenen, Worte und Dialoge von unglücklich verlaufenen Erlebnissen immer und immer wieder in Erinnerung. Und nicht nur das, wir ergänzen gelegentlich sogar noch „Erinnerungen“, die ursprünglich gar nicht zu der negativen Erfahrung dazugehörten.

Jetzt kommt der Knackpunkt, der diese menschliche Angewohnheit zum Problem macht:

Das Nervensystem macht keinen Unterschied zwischen einer wirklichen Situation und einem nur in Gedanken durchgespielten Erlebnis.

Anders ausgedrückt: Der Körper reagiert auf selbsterdachten Stress exakt genauso wie auf realen.

Das wäre schon unangenehm genug. Aber es geht noch weiter:
Im Gehirn bilden sich Verknüpfungen zwischen dem Erlebnis und der Stressreaktion. Und weil das Gehirn so arbeitet, dass es Ähnliches immer mit bereits Gelerntem verbindet, verknüpft es auch andere Gedanken und Erlebnisse mit dem schon gelernten Stress-Reaktionsmuster.

Mit jedem erneuten Durchdenken werden die Verbindungen noch dichter und stärker. Sogar Dinge, die nur zufällig zeitgleich passieren, werden dabei mitvernetzt: Das Lied im Radio, die Person die das Zimmer betritt, der Geruch im Raum…

Weil das Gehirn früher gemachte Erfahrungen wieder abruft, wenn etwas ähnliches erneut passiert, kommt unwillkürlich ein altes Bild, eine Erinnerung, ein Gefühl auf, wenn wir durch irgendetwas an ein altes Erlebnis erinnert werden – und meistens wird es uns nur halb bewusst als eigenartiger Stimmungsumschwung oder unangenehmer Geistesblitz.

Kleine Ursache, nachhaltige Wirkung

Zu Anfang hatte ich gesagt, dass wir zu 95 Prozent bei unserem Verhalten im Automatik-Modus laufen. Und die restlichen fünf Prozent sind auch deutlich durch unsere Erfahrungen bestimmt, obwohl wir das Gefühl haben, „frei“ zu entscheiden.

Bei nützlichen Gewohnheiten, die uns helfen, mit geringem Energieeinsatz ein Leben zu führen, wie wir es uns vorstellen, ist das großartig.

Bei Verhalten, das wir nicht an uns mögen, ist es doof. Denn die mit vielen Wiederholungen (sowohl real als auch in Gedanken) eingelernten Erfahrungen lenken uns immer wieder ins alte Fahrwasser zurück. So lange, bis wir überzeugt sind: „Ich kann nichts ändern. Bei mir klappt Veränderung einfach nicht.“

Tatsächlich braucht eine Veränderung aber, bis sie zu einer neuen (automatisch ablaufenden) Gewohnheit wird, richtig viel Übung.

Man sagt, es kann bis zu neunzig (möglichst tägliche) Wiederholungen brauchen, bis ein geändertes Verhalten wirklich sitzt. Was du drei Monate lang jeden Tag einmal machst, das wirst du anschließend auch mühelos weitermachen können.

Ideal ist es, wenn dir die Übungen keinen Stress machen und du möglichst nie Misserfolgs-Erlebnisse hast. Dann ersparst du dir auch das negative „Im-Kreis-Denken“, das beim Neulernen einer Gewohnheit höchst kontraproduktiv wäre.

Daher: Wenn du dir ein neues Verhalten angewöhnen möchtest, dann mach die Änderung so winzigklein wie möglich, damit du garantiert Erfolgserlebnisse und keinen Stress beim Üben hast.

(Für kleine Veränderungen reichen übrigens oft schon 21 ununterbrochene Tage mit der neuen Gewohnheit – aber mehr ist definitiv besser.)

Es ist übrigens völlig normal, dass sich eine neue Gewohnheit am Anfang irgendwie merkwürdig und fremd anfühlt – der Trick ist wirklich nur, so lange durchzuhalten, bis sich das, was du ändern wirst, wie „deins“ anfühlt.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine