Gestern hatte ich eine Situation vor mir, mit der ich bis dahin noch nie konfrontiert war:
Ich war mit einer Gruppe von Leuten im Seminarraum (was mir trotz viel Routine immer noch ordentlichen “Respekt vor der Situation” abnötigte - das Wort “Angst” würde ich in diesem Zusammenhang aber mittlerweile nicht mehr verwenden).
Hinzu kam diesmal, dass ich mein Seminar auch ins Internet übertragen musste, damit die Leute, die Corona-positiv getestet waren, von daheim aus dabei sein konnten. So hatte ich neben dem anwesenden Publikum auch noch mehrere unsichtbare Zuschauer. (An und für sich kann ich dank viel Routine auch reine Online-Veranstaltungen mit einigem Respekt, aber ohne Angst bewerkstelligen.)
Beides gleichzeitig allerdings…
Das ist etwas ganz anderes. Es braucht viel mehr als die doppelte Aufmerksamkeit, sowohl die Leute im Raum als auch die im Internet anzusprechen. Da kann so viel gleichzeitig passieren bzw. schiefgehen. Von all den technischen Herausforderungen, die verhindern könnten, dass eine Präsentation gleichzeitig per Beamer und im Live-Stream zu sehen und zu hören ist, gar nicht zu reden.
Schon vor Wochen lief mein Hirn zu Hochform auf, um mir all die Möglichkeiten in den Kopf zu setzen, wie ich dabei mich komplett blamieren könnte. Je näher der Tag kam, desto kreativer wurde ich im erfinden von möglichen Schrecklichkeiten.
Ich habe mir also schon Tage im Voraus vielfältige Katastrophen-Szenarien vorgestellt und Lösungen für alle Varianten phantasiert, die mir eingefallen sind. Ich kann dir sagen: Mir sind viele eingefallen.
Entsprechend angespannt war ich, als die Veranstaltung dann - endlich! - losgehen sollte.
Und mir war klar: Ich hatte mächtige Angst.
Was tun, wenn da diese riesengroße, unüberschaubare, klar und deutlich spürbare Angst ist?
Früher war ich voll und ganz davon überzeugt: “Dann geht’s halt nicht.”
(Wenn du meine Mutismus-Geschichte kennst, dann weißt du: Vieles ging bei mir tatsächlich über viele Jahre hinweg nicht. Nur hatte das gar nichts mit Angst zu tun.)
Erst in letzter Zeit habe ich angefangen, mich zu fragen, was ich MIT der Angst tun könnte…
“Ich HABE Angst” ist keine hilfreiche Idee.
Wenn ich etwas habe, das ich nicht haben will, ist die einzig logische Frage: Wie werde ich es schnellstens los?
Und so läuft das mit einem Angst-Gefühl nicht. Denn das Angst-Gefühl will ja darauf hinweisen, dass da etwas ist, das Beachtung erfordert. Deswegen wird es umso penetranter, je weniger ich es haben will.
Außerdem habe ich verinnerlicht, dass ich für alles verantwortlich bin, was mir gehört. Es fühlt sich dann nicht wie irgendein komisches sich ständig wandelndes Gefühl, sondern wie MEINE Angst an. Wenn ich also die Angst HABE, dann muss ich mich um sie kümmern.
(Ich weiß schon… Das mit der Verantwortung für die eigenen Sachen war wahrscheinlich nie für ungewollte Emotionen gedacht… Und trotzdem übernehme ich sofort Verantwortung für das doofe Angst-Gefühl. Schließlich ist es ja meines.)
Und dann kommt noch hinzu, dass die Angst, die ich habe, mich buchstäblich dazu auffordert, etwas gegen sie zu unternehmen. Dadurch zieht sie meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Ich kann kaum noch an etwas anderes denken, weil ich diese Angst habe.
Und so erklärt sich meine feste Überzeugung: Wenn ich Angst habe, dann kann ich nichts machen. Weder gegen die Angst. Noch für das, was ich eigentlich vorhatte.
“Da ist eine Angst. Ich kann sie da SEIN LASSEN.”
Es ist nur ein ganz klein bisschen anders gedacht. Aber für mich ändert dieser anders gedachte Gedanke alles.
Da ist also dieser Gedanke. “Angst.” Ich kann ihn da sein lassen. Er will mir sagen, dass ich aufmerksam sein soll. Aber sobald ich überprüft habe, ob es eine tatsächliche Gefahr gibt, auf die ich reagieren muss, kann ich ihn als gut-gemeint-aber-überflüssig da sein lassen.
Der Angst-Gedanke bringt ein klares Gefühl mit sich. Für mich ist es so ein wuseliges Aufgerührtsein innendrin. Man könnte es auch mit “momentan viel zu viel Energie” umschreiben. Das wäre total hilfreich, wenn es eine Gefahr gäbe, auf die ich schnell und aktiv reagieren müsste. Wenn es aber keine tatsächliche Gefahrensituation gibt, dann ist eben jetzt gerade mehr Energie da als nötig.
Der Energieschub macht sich im Körper bemerkbar. Der Blutdruck ist erhöht und macht den Puls spürbar und die Haut gut durchblutet. Mir wird warm und manche Stellen fühlen sich schwitzig an. Und es gibt diese Stelle am Hals, an der man die gute Durchblutung als rote Flecken sehen kann. Die Muskeln sind angespannter als sonst. Da sie das nicht lang durchhalten, versuchen sie die Spannung durch leichtes Zittern schnell wieder loszuwerden. Das Denken ist für einen Moment ein wenig zäh, weil die Energie vor allem in Arme und Beine geht. So bekomme ich mehr Bewegungsdrang und weniger Lust auf kluges Sprechen.
Das alles kann ich da sein lassen. Und genau das machen, was ich auch machen würde, wenn kein Angst-Gefühl da wäre.
Und wenn die Idee aufkommt, dass ich mit dem Angst-Gedanken etwas machen müsste, damit das Angst-Gefühl weggeht, damit die Angst-Reaktion im Körper aufhört… Dann weiß ich: Es geht umso schneller weg, je weniger ich darüber nachdenke.
Gedanke, Emotion, Reaktion - das muss ich alles nicht weghaben wollen
Das fiese am Weghabenwollen ist: Es bleibt dadurch die ganze Zeit im Bewusstsein.
Ich will DAS nicht. DAS soll weg. Wenn DAS nicht weg ist, kann nichts anderes kommen. DAS muss verschwinden, damit …
Mehr an einem Gedanken festhalten könnte ich mich kaum. Das Weghabenwollen hält krampfhaft an allem fest, was ich weghaben will.
Weghabenwollen ist nämlich identisch mit ganz intensiver Beschäftigung. Und alles, was gerade Gegenstand der ganz intensiven Beschäftigung ist, geht nicht weg.
Ein Gedanke geht dann weg, wenn er unbeobachtet bleibt. Das dauert nur wenige unbeobachtete Sekunden lang. Vielleicht auch nur einen Sekundenbruchteil. Wer weiß - wo ich es doch nicht beobachten kann…
Eine Emotion wandelt sich in weniger als einer Minute, wenn sie keine Aufmerksamkeit bekommt. Gemeinerweise kriege ich davon nichts mit, wenn ich meine Aufmerksamkeit nicht darauf richte. Könnte also sein, dass unbeobachtete Emotionen in Lichtgeschwindigkeit kommen und gehen. Oder so langsam, dass sie gar nicht spürbar werden. Wer weiß…
Körperreaktionen auf unbeobachtete Gedanken und nicht festgehaltene Emotionen gehen in weniger als drei Minuten zum Normalzustand zurück. Außer, wenn ich mir länger Gedanken darüber mache. Oder wenn ich sie weghaben will.
Man kann also sagen: Alles geht in kurzer Zeit von selber weg, wenn man sich nicht länger damit beschäftigt. (In weniger als drei Minuten - aber bitte beobachte das nicht!!!)
Was tun, wenn da mal wieder Angst auftaucht?
Ich musst nichts MIT der Angst tun.
Ich brauche auch nichts GEGEN die Angst zu tun.
Sie taucht auf. Ich prüfe kurz, ob reale Gefahr da ist. Wenn nicht, lasse ich sie sein. Und sie geht wieder.
Für mich hat es sich bewährt, die folgenden Denk-Schritte zu machen, damit ich mit dem Beobachten aufhören kann:
- Feststellen, dass der Angst-Gedanke da ist.
- Klarstellen, dass der Angst-Gedanke so lang da sein darf, wie er will.
- Weitermachen, als ob kein Angst-Gedanke da wäre.
- NICHT darauf achten, ob der Angst-Gedanke davon weggeht.
Und mein Offline-plus-online-Seminar…
Ich war körperlich angespannt, weil ich mich darauf verlassen musste, dass die Technik tun würde, was sie sollte. Der Angst-Gedanke “Ohgottohgottohgott, was mache ich, wenn…” kreiste bis es losging und dann noch ein paar Momente länger in meinem Kopf herum.
Ich habe beides sein lassen.
Der Seminarstart lief reibungslos.
Aber zwischendurch gab es zwei, drei Momente von “Ohgottohgottohgott”-Gedanken. Ich habe sie sein lassen. Sie sind unbeobachtet wieder verschwunden.
Es war ein schönes Seminar. Und falls ich mal wieder so eine Offline-Online-Hybridveranstaltung machen muss, weiß ich jetzt: Eigentlich ist das gar nicht dramatisch. Hat ja schon mal ganz gut geklappt.