Unsicherheitsmomente sind menschlich

Christine Winter // Kommunikationsprobleme

5. Mai 2016  

Zwei Leute begegnen sich an einem engen Durchgang. Beide sind ein wenig zerstreut und weichen zur gleichen Seite aus – reagieren aber sofort und springen auf die andere Seite – und stellen fest, dass sie sich wieder gegenüberstehen. Nun sehen sie sich verstohlen kurz an, zucken entschuldigend die Achseln und…  bewegen sich wieder simultan auf die auf die andere Seite.

Schließlich ergreift einer von den beiden die Initiative und gewährt dem anderen mit großer Geste den Vortritt.

Und der andere huscht irgendwie verlegen schnellstmöglich vorbei.

Anschließend fühlen sich beide ein wenig peinlich berührt – aber der Tag geht weiter und in kleine Irritation ist gleich wieder vergessen.

Sowas kommt schließich schon mal vor.

Unsicherheitsmomente passieren ständig

Letztens beim Betreten eines Aufzugs in einem Hotel habe ich einen kleinen Augenblick gezögert, weil schon einige Menschen mit viel Gepäck drinnen waren. Ich habe einen Sekundenbruchteil überlegt, ob ich nicht doch lieber die Treppe nehme, damit die Leute mit den großen Koffern mehr Platz haben.

Sofort hat mich ein Herr freundlich-bestimmt und von heftigem Winken untermalt aufgefordert, doch reinzukommen. Alle anderen haben eifrig ihre Koffer zurechtgeruckelt um mir Platz zu machen. Und mir blieb gar nichts anderes mehr übrig, als mich noch dazuzuquetschen – nur um dann in jeder Etage auszusteigen, jemanden rauszulassen, wieder einzusteigen…

Die ganze Aufzugfahrt lang fand ich das ziemlich peinlich – obwohl es dafür keinen rechten Grund gab. Aber dieses kleine Zögern, das ich als ersten Eindruck hinterlassen hatte und das so große Folgen nach sich zog, hing mir noch nach…

Oder als ich kürzlich beim Wandern in Tirol war…

Dort ist es völlig selbstverständlich, dass jeder jeden auf der Straße grüßt. In meinem oberbayerischen Heimatdorf übrigens auch.

Aber dort läuft das ein bisschen anders als hier. Denn in Tirol grüßt jeder Einheimische ausnahmslos jeden schon von weitem mit „Grias de“. Und mir scheint, dass unterdessen jeder, den man nicht persönlich kennt, abgescannt wird: Tourist oder doch nur ein Fremder aus dem Nachbardorf?

Für mich war das gewöhnungsbedürftig – denn daheim in meinem Dorf grüße ich ganz ohne ansehen der Person mit „Grüß Gott“, während ich an ihm vorbeigehe. Nie käme ich auf die Idee, dort jemand Fremden zu duzen.

Nach ein paar Begegnungen, bei denen ich mir sehr ungeschickt vorkam, habe ich in Tirol das Problem auf meine Weise gelöst: Ich grüßte mit „Servus“ – das passt für alle Tageszeiten, alle Altersgruppen, wird in Österreich und Bayern gleich verwendet und ich muss nicht mal dran denken, ob ich nun per Du oder per Sie bin.

Und in die selbe Kategorie von unangenehmer bis leicht peinlicher Situation fällt es für mich auch, wenn ich jemanden ansprechen und um etwas bitten muss.

Ich geb’s gleich zu: Ich frage nur im absoluten Notfall nach dem Weg.
Also eigentlich nie.

Ich warte oft ewig, bis die Bedienung im Café von selber zu mir kommt, wenn ich bezahlen will.

Wenn ich in einem Laden etwas nur von einer Verkäuferin bekommen kann und die Verkäuferin mich nicht beachtet, dann gehe ich lieber woanders hin, als dass ich sie auffordere, mich zu bedienen.

Was passiert in solchen Unsicherheitsmomenten eigentlich?

  • Ich bin mir unsicher. (Oder ich bin zerstreut. Oder unkonzentriert. Oder …)
  • Es ist mir nicht bewusst, dass ich nicht weiß, was ich genau will – und weil ich es nicht weiß, bin ich von der Situation für einen klitzekleinen Moment überfordert. Mindestens…
  • Mein Gegenüber spürt die Unsicherheit – und noch bevor es ihm bewusst wird, dass er mich als überfordert erlebt, reagiert er bereits reflexhaft darauf.
  • Der andere macht „mehr als normal“ – seine Reaktion wirkt irgendwie demonstrativ oder übertrieben.
  • Und ich bekomme das Gefühl: „Auweh, ist das peinlich.“ Und dieses Gefühl wird mir auch schlagartig arg bewusst. (Glühendrote Wangen und der verlegene Blick zum Boden schon mal inbegriffen…)
  • Ich fange an zu denken: „Der macht das jetzt extra. Wegen mir.“ Und deswegen fange ich an zu überlegen: „Welche Reaktion ist denn um Himmels Willen jetzt die richtige???“
  • Mir fällt absolut nichts ein. (Was übrigens auch nicht verwunderlich ist – es gibt nämlich keine von vornherein „richtige“ Lösung für solche Momente. Ob eine Reaktion gut war, zeigt sich erst an der Reaktion des anderen.)
  • Ich denke weiter nach, krampfhaft: „Welches Verhalten ist jetzt in Gottes Namen das richtige???“
  • Spätestens jetzt hat mein Gegenüber auch das Gefühl: „Meine Güte, ist das peinlich.“ Und vermutlich denkt er krampfhaft darüber nach, was nun das angemessene Verhalten sein könnte.
  • Kurzschluss. Wenn jetzt nicht einer die Initiative übernimmt, dann kommen wir aus dieser Nummer nicht mehr raus.
  • Einer von beiden macht schließlich irgendwas – sehr verkrampft und mit einem ziemlich unguten Gefühl – weil nichts machen schließlich auch keine Lösung ist.
  • Und schlussendlich trennen sich beide mit der Hoffnung, man möge sich nicht so schnell oder am besten nie wieder in die Arme laufen…

Spiel die Punkte ruhig gedanklich mal mit meinen Beispielen oder mit deinen eigenen durch. Es würde mich nicht wundern, wenn sowas bei dir so ähnlich ablaufen würde…

In der Superzeitlupe betrachtet

Zwei Menschen bewegen sich auf einander zu.

Einer gibt ein winzigkleines Unsicherheitssignal – fast unwahrnehmbar, aber doch irritierend für den anderen. (Einen Tick zu lang zögern oder ein minimales körpersprachliches Unsicherheitssignal sind klassische Beispiele.)

Der andere reagiert sofort mit einer klitzekleinen Anspannung. Er passt sich an das Zögern bzw. die Unsicherheit an. Und das geht so blitzschnell, dass er gar keine Chance hat, sich darüber bewusst zu werden.

Der eine hat einen Geistesblitz: „Scheiße, wieder FALSCH gemacht.“ Meistens gefolgt von einem „Ich kanns ja eh nicht. Das war ja wieder sooo klar!“

Beim anderen gibt’s wahrscheinlich ähnliche reflexartige Gedanken.

Beide befinden sich kurzfristig in einer Blockade, in der sie nicht souverän reagieren können.

Und schließlich überwindet einer die Blockade mit einem verkrampften, übersteigerten und für beide unangenehmen Verhalten – nur um überhaupt irgendwie wieder aus der Situation herauszukommen.

Es gibt kein richtiges Verhalten in einem solchen Moment, das hatte ich ja vorhin schon erwähnt. Also spar dir alle Überlegungen über Fehler und perfekte Lösungen.

Gibt’s denn keine Alternative?

Doch, es gibt einen Ausweg – aber der braucht ein wenig Überwindung. Dabei ist er eigentlich extrem simpel:

Mach einfach IRGENDWAS.

Mit „Irgendwas“ meine ich, dass du dich für irgendein Verhalten entscheidest und das mit voller Überzeugung durchziehst.

Ich wiederhole mich gerne, weil’s wirklich wichtig ist: Es gibt keine richtige oder falsche Lösung, sondern nur eine, die funktioniert – oder eben nicht.

Wenn etwas nicht funktioniert, dann mach etwas anderes. Irgendwas anderes.

Meistens braucht’s aber gar keinen zweiten Versuch. Echt nicht. Weil…
Weil dein Gegenüber richtig froh ist, wenn du die Initiative ergreifst und irgendwas machst, was euch beiden hilft, aus der Blockade wieder rauszukommen. Und deswegen wird er sich gerne an dein souveränes Verhalten anpassen und mit dir gemeinsam die skurrile Situation auflösen – meistens begleitet von einem herzlichen Lachen und ein paar humorvollen Worten.

Ãœbrigens ist das auch mein genialster Geheimtipp gegen Blockaden:
Mach irgendwas – also wirklich IRGENDWAS, bevor die Blockade zuschnappt und du nicht mehr ohne weiteres rauskommst.

Und dann wäre da noch der Trick mit dem Selbstbewusstsein

Man sagt ja gerne, dass selbstbewusste Menschen im Vorteil sind. Warum das so ist, sagt kaum mal jemand.
Ich teile die Ansicht, dass souveränes Verhalten und selbstsicheres Auftreten sehr hilfreich ist. Und ich versuche mal kurz zu beschreiben, warum das so ist.

Jemand, der souverän – also zielgerichtet und mit innerer Überzeugung – auftritt, macht in einer fremden Situation erst mal, was er bereits in seinem Verhaltensrepertoire hat. Sollte er hinterher feststellen, dass seine Gewohnheiten nicht optimal für die Situation sind, passt er sich mit der Zeit an die neuen Anforderungen an. Und schon hat er wieder ein neues Verhalten „gesammelt“.

Unsichere Menschen versuchen von Anfang an herauszufinden, wie „es geht“, bevor sie überhaupt agieren. Durch dieses zögerliche Verhalten verunsichern sie die Menschen, auf die sie treffen und ernten unwillkürlich immer wieder „peinliche“ Situationen. Diese Unsicherheitsmomente möchten sie möglichst generell vermeiden und lassen alles weg, was schon mal nicht funktioniert hat – und engen somit ihr Verhaltensrepertoire immer weiter ein.

Ich habe ein „Experiment“ gemacht und beide Varianten ausprobiert. Auf meiner Wanderung in Tirol sind mir genügend Leute aus verschiedenen Ländern und Regionen begegnet, so dass ich viele Menschen, die ich nie wiedersehen werde, als unfreiwillige Teilnehmer für meinen kleinen Versuch hatte.

Ich habe einige von den entgegenkommenden Wanderern genau so gegrüßt, wie ich es daheim mache, wenn ich jemandem beim Spaziergang begegne. Und andere wiederum habe ich erst kurz gemustert, um schnell zu überlegen, was das für einer ist – und mich dann entschieden, wie ich ihn grüße (oder ob überhaupt).

Die angenehmeren Begegnungen waren definitiv die, die ich mit einem spontanen „Grüß Gott“ selbstbewusst eingeleitet habe. Bei den zögerlicheren Versuchen ist bei mir selbst (und beim Gegenüber vermutlich auch) ein ungutes Gefühl zurückgeblieben.

Was ich dir mitgeben möchte

Mach in einer bestimmten Situation, was du immer machst – und mach es, bevor du dich durch Grübeln blockierst.
Ãœberprüfe hinterher den Erfolg.
Wenn – und nur wenn – das Ergebnis optimierungswürdig war: Optimiere es in Gedanken.
Dann: Hake es für diesmal ab.
Und mache selbstbewusst die optimierte Variante, wenn du das nächste Mal in eine ähnliche Situation kommst.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine

PS: Das Thema hat mich noch weiter beschäftigt – den Folgebeitrag findest du hier: Unsicherheitsmomente mal weitergedacht…