Und plötzlich war er nicht mehr da…

Christine Winter // Mutismus

25. Juni 2017  

Diese kleine Geschichte widme ich allen, die gestern auf der Jahrestagung der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e. V. dabei waren – egal, ob wir nun miteinander sprechen konnten oder nicht.

Und allen, die sich schon mal gefragt haben, wie es ist, wenn Kinder plötzlich schweigen.


Neulich war ich im Freibad. Ich saß unweit des Planschbeckens auf einer Bank.

Im Kinderbecken waren zwei Jungs, so ungefähr fünf oder sechs Jahre alt, und hatten Spaß mit dem Wasser. Der Springbrunnen in der Mitte hatte es ihnen angetan, denn damit konnte man prima um sich spritzen, wenn man die Düsen mit der Hand zuhielt. Manchmal wurden die Jungs dabei ordentlich nassgespritzt. Und ich von Zeit zu Zeit auch.

Dann schaute mich der kleine „Anspritzer“ frech an. Ich grinste zurück und gab ohne Worte mein Okay dafür, wieder nassgespritzt zu werden. Zwischendurch riefen die beiden lautstark: „Mama, schaauuuuu!“, wenn sie einen besonders bemerkenswerten Trick gefunden hatten, und bekamen von Mama einen Hinweis wie „Nicht so wild!“ oder „Nicht die Leute nassspritzen!“

Die Zwei machten mir Spaß und sie machten sich ihren Spaß mit mir.

Ich wurde auf die allerfreundlichste Weise angeflirtet, wie nur kleine Kinder das können. Ich durfte sozusagen mitspielen, obwohl ich mit meinem Buch am Rande des Geschehens saß und eigentlich vorgehabt hatte, ein wenig zu lesen.

Die Mama kannte mich vom Sehen. Sie setzte sich zu mir und wir kamen ins Gespräch. Sie wusste auch, dass ich für Stille Stärken schreibe und dass ich früher Sprechblockaden hatte.

Wir plauderten, die Jungs plantschten und spritzten uns nass, die Mama mahnte und ich grinste.

Dann erfuhr ich: Die beiden haben Selektiven Mutismus.

Ich war verblüfft. Vor allem einer von den zweien hatte mich – schweigend zwar, aber durchaus kontaktfreudig – in sein Spiel mit einbezogen. Und zwar auf eine total charmante, unwiderstehliche Art, so dass ich mein Buch beiseitelegte und – ebenfalls ohne Worte – mitspielte.

Die Mama erzählte mir von den Alltagsproblemen, die man als Mama von zwei Jungs mit Sprechblockaden hat. Und irgendwann kam mein neuer junger Freund zu uns rüber. Er grinste mich an – auf eine Weise, die man einfach nur „frech“ nennen kann – und ich lächelte zurück und zwinkerte.

Der Junge erzählte voller Begeisterung seiner Mama die besten Springbrunnen-Spritz-Tricks. Immer mit einem verschmitzten Seitenblick auf mich. Ich fand ihn super aufgeschlossen.

Dieser kleine Charmeur soll Selektiven Mutismus haben?

Die Mama hörte eine Weile zu und sagte dann: „Du, schau mal, die Frau, mit der ich mich gerade unterhalte, hatte früher auch dieses Problem mit dem Nicht-Sprechen.“

Ich bekam noch einen einzigen Blick, der voller Misstrauen und Skepsis war, und wurde von Kopf bis Fuß gescannt.

Innerhalb eines Sekundenbruchteils war mein junger Freund verschwunden. Was vor mir stand, war die Silhouette eines sechsjährigen Jungen. Kein Kontakt mehr, keine Beziehung. Die Augen sahen mich nicht mehr. Das Lächeln war verschwunden und der ganze kleine Kerl damit.

Kaum zu glauben. Das gleiche Kind, und doch ein völlig anderes.

Ich machte noch einen Versuch, ihn anzusprechen. Doch er war „weg“.

Selektiver Mutismus. Die Situation entscheidet, welches Kind ich sehe.

Ich war früher auch so. Ich weiß, dass eine Blockade nicht zu verhindern oder zu durchbrechen ist, wenn sie kommt.
Und doch hat es mich verletzt, dass unsere Beziehung so abrupt abgebrochen war.

Ich gebe es zu. Ich hatte Gedanken wie: „Mann, du kannst doch sprechen. Gerade eben hast du es noch getan. Und zwar grinsend und flirtend.“

Und ich hatte Gedanken wie: „Das arme, arme Kind. Was kann ich denn nur tun, damit es wieder so ist wie zuvor.“

Und: „Es muss doch schlimm sein, so plötzlich ‚weg‘ zu sein.“

Mein Kopf sagte mir, dass ich nichts ändern kann. Die Blockade kommt unwillkürlich und lässt sich auch nicht ändern. Und sie ist in dem Moment, in dem sie auftritt, für Außenstehende unangenehmer als für den Betroffenen.

Mama und die beiden Jungs gingen nach Hause.

Und ich…?

Noch nie hatte ich bei jemand anderem diesen Moment des „Verschwindens“ in einer Blockade derartig deutlich gesehen.

Ich frage mich: Hätte ich es verhindern können?

Und gleichzeitig weiß ich: Falsche Frage! Ich hatte die Gelegenheit, als Fremde von zwei kleinen Jungs in ihr Wasserspiel einbezogen zu werden. Und wir waren für eine kleine Weile sowas wie Freunde. Wir hatten Spaß zusammen. Das ist es, was ich als Erinnerung an diese Begegnung behalten möchte.

Die zwei bekommen Unterstützung von einer sehr einfühlsamen und erfahrenen Therapeutin und werden in Kürze in die Schule kommen. Ich bin ganz sicher, dass dann die neue Umgebung helfen wird, dass sie noch seltener in Blockaden geraten – bis sie eines Tages ganz normale, ziemlich freche und sehr aktive Jungs sind.

Denn eines weiß ich: Man kann die Sprechblockaden hinter sich lassen. Und mit Hilfe geht es leichter. Es muss nicht so bleiben – auch dann nicht, wenn es sich im Moment anfühlt, als ob es unabänderlich wäre. Und es gibt großartige Leute, die engagiert helfen – ein paar davon habe ich gestern auf der Mutismus-Tagung kennengelernt.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
(Und erlaube es den anderen, dich auf deinem Weg zu unterstützen.)
Deine

Christine