Na, Mutismus – wieder da?

Christine Winter // Mutismus

15. Dezember 2014  

Wie du weißt, liegt meine letzte Sprechblockade mehrere Jahre zurück. Aber eine Begegnung vor einigen Tagen hat mir doch vieles wieder in Erinnerung gerufen…

Ich war in einer beruflichen Situation mit einem Mann konfrontiert – groß, stattlich, könnte vom Alter her mein Vater sein, spricht den Dialekt der Region, in der ich aufgewachsen bin. Wir saßen mehrere Stunden zusammen in einer Besprechung, und während er sprach, kamen bei mir immer mehr Erinnerungen an früher hoch.

Ich hatte eine Situation im Kopf, die ich längst vergessen hatte. Ich war 16 und sehr bemüht, wenigstens in irgendeiner Weise zu reagieren, wenn ich angesprochen wurde. Das Ergebnis war allerdings bescheiden.
Was aber gut klappte (auch vor größerem Publikum) war musizieren. Und beim größten Auftritt, den ich je hatte, wurde ich nach der Generalprobe vom Veranstalter vor den anderen Musikern kritisiert, obwohl ich in den Proben alles richtig gemacht hatte. Den Auftritt habe ich dann unter enormem Stress mit Ach und Krach hinter mich gebracht – und danach nie wieder vor so vielen Zuhörern gespielt.

Und eine andere Situation fiel mir ein: Ich war Anfang 20 und immer noch sehr eingeschränkt in meiner Kommunikation. Bei einem Kritikgespräch mit meinem damaligen Chef konnte ich überhaupt nicht agieren sondern nur die Achseln zucken und den Blickkontakt unterbrechen. Er wurde sehr sauer, denn weder er noch ich wussten, dass ich Mutismus hatte. Er hielt mich für bockig und vermutlich auch für wenig intelligent. Ich selbst hielt mich für völlig lebensuntüchtig und für diese Welt untauglich.

Während die Besprechung vor sich hin plätscherte und der Mann mir gegenüber sprach, da hatte ich das Gefühl, immer kleiner zu werden. Ich saß im Konferenzraum und konnte mich selbst dabei beobachten, wie ich wieder Kind wurde. Mein Körper verspannte sich und ich empfand – wie früher – schon allein dadurch Stress, dass ich mit mehreren Menschen in einem Raum sein musste.

Und doch war es anders, denn ich bin kein Kind mehr. Ich konnte nicht vermeiden, dass ich mich unwohler fühlte als sonst in solchen Situationen. Aber ich konnte mich aufrechter hinsetzen, bewusst eine schnelle Entspannung einbauen – und ich konnte sprechen, als ich an der Reihe war.

Meine Aussagen waren aggressiver und kürzer, als ich im Normalfall spreche. Man könnte sagen, ich wäre „schnippisch“ gewese,n und jedenfalls nicht besonders höflich oder wertschätzend. Und dennoch habe ich gesprochen. Vor den ganzen anderen Besprechungs-Teilnehmern. Und in der Pause auch eine ganze Weile mit dem Mann, der bei mir diese „alten“ Reaktionen ausgelöst hat.

Es war anstrengend. Es war mit einem tief sitzenden Stress verbunden. Ich habe wie früher alle meine Reaktionen und Aussagen dauernd in Frage gestellt. Und irgendwo ganz weit hinten in meinem Bewusstsein grummelte auch eine leise, undefinierbare Unsicherheit vor sich hin.

Heute habe ich Verständnis für so ein eingeschränktes Verhalten, denn ich habe verstanden, dass in dieser speziellen Situation im Rahmen der Fähigkeiten, die mir gerade zur Verfügung standen, das bestmögliche herausgeholt habe. Und darauf bin ich stolz.

Ich weiß jetzt, das eine unglücklich verlaufene Besprechung nicht bedeutet, dass ich schlecht oder falsch kommunizieren würde. Es bedeutet einfach nur, dass in dem Moment nicht mehr drin war.

Dem Mann, der mich so ins „Schleudern“ gebracht hat, bin ich dankbar dafür, dass er mir die Gelegenheit gegeben hat, wieder etwas über mich zu lernen.

Vielleicht kannst auch du ab und zu Situationen, in denen du mit dir selbst nicht zufrieden bist, dazu nutzen, um besser zu verstehen, was für dich richtig und hilfreich ist.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine