Es gibt da eine junge Frau.
Nennen wir sie Lisa.
Lisa denkt sich oft: „Ich möchte so sein, wie alle anderen. Dann würde ich keinem auffallen, weil ich zu still bin. Und ich wüsste immer etwas zu sagen, wenn ich etwas sagen möchte. Wenn ich so wäre, wie alle anderen, dann wäre alles ganz einfach...
Schließlich ist es ja bei den anderen auch einfach.
Könnt‘ ich doch nur so sein, wie ‚man‘ eben so ist. Ach, wenn ich doch wäre wie ‚man‘ ist… Seufz… Normal halt…“
Wenn Lisa an das denkt, was sie macht, dann klingt das ungefähr so:
„Warum hast du schon wieder…?“
„Immer machst du…!“
„Wenn du nicht so … wärst, dann könntest du…!“
„Was machst du denn jetzt schon wieder für einen Mist???“
„Immer DU! Wenn du nur anders wärst und nicht wie Lisa, dann würde es dir besser gehen.“
Lisa geht selten raus. Sie hat das Gefühl, sie gehört da nicht hin.
Aber heute – ja, heute hat sie das Bedürfnis, zu laufen. Weg von diesem ganzen Gedankenterror. Heute muss sie mal raus.
Sie geht in ein nahes Waldstück. Dort macht sie ab und zu einsame Spaziergänge – um mal in Ruhe nachzudenken.
Sie läuft in ihre Gedanken vertieft den Weg entlang, den sie immer nimmt.
„Jetzt bist du schon wieder ganz allein unterwegs. Du solltest doch unter Leute gehen. Das ist nicht normal, immer allein zu sein. Du bist ja wirklich viel zu oft für dich. Die Leute haben völlig recht: Du musst mehr unter Menschen. Du lernst ja sonst nie, weniger still zu sein. Wie soll das denn weitergehen – also so jedenfalls nicht! Du MUSST endlich so werden, wie die normalen Leute: Du musst viele Freunde haben und dich jeden Tag mit ihnen treffen. Du musst vor allem immer einen Spruch parat haben, damit du schnell im Mittelpunkt stehst – am besten in einer ganz großen Gruppe. Du musst dann natürlich auch ganz viele interessante Geschichten zu erzählen haben. Aber dazu müsstest du ja erst einmal etwas richtig spannendes…“
„Ich Ichsemich!“
Vor Lisas Füßen ist plötzlich ein kleines Mädchen.
Keine Ahnung, wo die mitten im Wald hergekommen ist.
Das kleine Ding steht mit einem breiten Grinsen vor Lisa und scheint von Kopf bis Fuß in Bewegung zu sein. Das sommersprossige Gesicht und die strubbeligen Haare geben ihm ein trolliges Aussehen. Und die gute Laune, die von ihm ausgeht, überflutet Lisa buchstäblich.
Lisa antwortet nach kurzem Überlegen – vor Überraschung und Schreck ist ihr Hirn leergefegt – mit einem „Häh!?“ und sieht dabei mit Sicherheit alles andere als intelligent aus.
„Ich Ichsemich!“ grinst es ihr nochmal lauter entgegen.
„Du heißt ‚Ichsemich‘? Was ist das denn für ein Name???“
Das kleine Trollmädchen – man kann es gar nicht anders nennen – lacht sich schlapp. Es lacht und lacht und lacht, so ansteckend, dass es irgendwas in Lisa drin bewegt. Aber sie bleibt trotzdem ernst und kurz angebunden, denn sie lässt sich schließlich nicht von jedem in ein Gespräch verwickeln. Schon gar nicht mitten im Wald.
„Neeee!“ gluckst es. „Ich – ichse – mich!“
„Du Xst dich???“ Stirnrunzeln.
„Du bist echt witzig. Hihihihi.“
Okaaaay. Das hatte in letzter Zeit keiner behauptet…
„Aaalso: Du sagst die ganze Zeit DU zu dir, oder? Also DUZT du dich. Ist doch logisch. –
Ich ICHSE mich. Auch logisch.“
„Du meinst also, du denkst an dich selbst als ICH. Und nicht so wie ich als DU. Richtig?“
Das Grinsen wird so breit, dass es nur noch von den Ohren gestoppt wird.
„Aha. Und was macht das für einen Unterschied?“
„Wenn ich mich ICHSE, dann rede ich viel netter mit mir. Ist doch auch viel persönlicher. –
Ich DUZE mich nur ganz selten. Und zwar dann, wenn ich richtig richtig böse auf mich bin. –
Also eigentlich nie.“
Das Trollchen dreht sich um seine eigene Achse und lacht wieder.
Lisa denkt nach.
„Dreh dich doch auch mal rum. Das macht viel mehr Spaß als dein Gegrübel!“
„Du spinnst doch.“
Das Grinsen wird herausfordernd. Sie ist einfach knuffig, die Kleine.
„Du willst was zum Grübeln? Dann frag dich doch mal, warum du alle Menschen dauernd MANST. ‚Man müsste mal dies. Man sollte mal jenes. Wenn man nur endlich mal sonstwas würde…‘ Du MANST ja wirklich alles und jedes – dich selbst eingeschlossen!“
„Hmmmm…!?“
„Ich finde ja, IHREN ist menschlich.“
„Häh??? ‚Tschuldige, ich glaube, jetzt bin ich raus. –
Ich gebe ja zu dass ich mich dauernd duze und dabei nicht besonders nett zu mir bin. –
Und ich kann auch nachvollziehen, was du meinst, wenn du sagst, dass ich alle Welt und mich selber mit ‚man‘ bezeichne. –
Aber was ist jetzt bitteschön an ‚IHR‘ besser als an ‚MAN‘?“
Es sieht aus, als ob die Kleine auf und ab hopst. Dabei steht sie fest auf dem Weg, während der ganze kleine Körper in Bewegung ist. Sie wirkt ganz aufgedreht und quiekt: „Man, du bist aber gar nicht schlau! Das ist doch soooo klar: Wenn du alle MANST, meinst du in Wirklichkeit keinen. Beim IHREN meinst du viele – und zwar persönlich.“
„Ah ja…???“
„Dann gibt’s natürlich auch noch das DUZEN.“
„Ich dachte, duzen soll ich nicht.“
Jetzt springt die Kleine tatsächlich auf und ab und wirkt ein wenig angenervt:
„Bist du so erwachsen, oder tust du nur so? Du sollst DICH nicht mit negativem Dauerdenken duzen. Wenn – und zwar nur wenn – du ein einem Gespräch mit jemandem bist, dann wirst du ihn logischerweise DUZEN und dich ICHSEN und niemanden MANEN oder IHREN. Verstanden?“
„Du, lass es mich lieber nochmal zusammenfassen…“
Das weckt wieder das Grinsen und Hopsen vom Trollmädchen: „Ja, mach mal!“
„Ich spreche also über mich und nicht über ‚man‘.
Und ich spreche mit dir und nicht mit ‚jemand‘“
Trollige Doppelpirouette.
„Und ich denke über mich… Ja, wie denke ich denn am besten?“
„Am besten denkst du nur nett. Wenn du immer voller Liebe und Selbstachtung denkst, dann ist es wumsegal, wie du dich anredest. –
Aber bis du das richtig gut kannst habe ich noch eine andere Idee:
Probier doch mal das SIEZEN!“
„Siezen!? So wie: ‚Sie, Frau Lisa, warum haben SIE schon wieder…?'“
Trollmädchen lacht sich schlapp.
Lisa lacht unweigerlich mit. „Das klingt aber jetzt schon ganz schön blöd.“
„Probier’s nochmal. Das ist urkomisch. Probier am besten alle deine Selbstbeurteilungs-Lieblingssätze aus…! Los, mach!!!“
„Frau Lisa. Immer machen SIE…!“
„Frau Lisa, was war denn das jetzt schon wieder für ein Mist???“
„Frau Lisa möchte so sein, wie all die anderen um SIE herum. Dann würde SIE nicht auffallen, wenn SIE so still ist. Und SIE wüsste immer etwas zu sagen, wenn SIE etwas sagen möchte. Wenn SIE so wäre, wie alle anderen, dann wäre alles ganz einfach…“
Lisa sieht sich um. „Trollmädchen, wo bist du denn hin?“
Und dann hört sie das Lied, das zwischen den Bäumen heraus klingt:
ICHSEMICH kann ganz toll singen
und dabei durch’s Dickicht springen.
ICHSEMICH sucht neue „DUSCHONWIEDER“
denn alle brauchen „ICHSEMICH-Lieder“.
Eine wilde Geschichte, die mir da heute eingefallen ist. ​
Das Ichsen als Alternative zum Duzen habe ich vor kurzem in einer Podcastfolge des NLP-fresh-up-Podcast (ab 5:25) zum ersten Mal gehört. Und wie man sieht, hat es meine Phantasie ziemlich angeregt – seitdem passe ich ziemlich gut auf, wie ich in Gedanken mit mir rede.
Und du?
Duzt du dich, wenn du dich lobst.
Oder ichst du dich?
Und wie ist das, wenn du dich mit Selbstanschuldigungen beschäftigst?
„Manst“ du alle anderen einschließlich dir selbst?
Wie wäre es, wenn du dich bei selbstkritischen Gedanken siezen würdest???
Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine