Es war einmal eine Christbaumkugel.
Traditionell rot, hoch glänzend, aus hauchdünnem Glas mundgeblasen, schon etliche Jahre im Einsatz… Aber ihre Zerbrechlichkeit findet sie immer wieder belastend.
Wir Menschen würden vielleicht sagen, sie ist sensibel. Zu sensibel für ihren Job.
Und doch ist sie nun mal Christbaumkugel – was sollte sie also anderes machen, als alle Jahre wieder einen Baum zu schmücken…?
Früher lebte sie bei Oma das ganze Jahr über in einer Kiste mit ihren Kolleginnen. Jede hatte ihr eigenes Abteil, mit Zeitungspapier ausgepolstert, und Oma achtete sorgsam darauf, dass sie sich gegenseitig nicht berührten, weil sie sonst am Ende noch beschädigt worden wären.
Oma liebte es traditionell. Am 24. Dezember nachmittags wurde jede einzelne Kugel aus ihrem Aufbewahrungs-Abteil geholt, mit einem ganz besonders weichen Tuch ganz sanft abgewischt und an eine wundervolle Tanne gehängt. Alle Kugeln Ton in Ton aufeinander abgestimmt – einfach prachtvoll. Dazu kamen echte dunkelrote Wachskerzen, ein paar Strohsterne und das uralte schwere Lametta, das Oma von Jahr zu Jahr sorgsam aufbewahrte, weil es sowas ja längst nicht mehr zu kaufen gibt.
Und jedes Jahr am Dreikönigstag sammelte Oma jeden Lamettafaden vom Baum, dann die Kerzenständer und die Strohsterne – und zuletzt mit ganz besonderer Vorsicht die Christbaumkugeln. Und die rote Christbaumkugel war stolz auf die Rolle, die sie gespielt hatte – aber vor allem war sie froh, nun wieder ausruhen zu können bis zum nächsten Einsatz.
Im vergangenen Jahr war irgendetwas anders. Die Kiste wurde kräftig durchgeschüttelt und überhaupt war mitten im Jahr so unglaublich viel Unruhe gewesen. Die Kugeln machten sich so ihre Gedanken, was wohl geschehen sein könnte – aber schließlich wurde es wieder ruhig um die Kiste herum und alles war wieder wie immer.
Aber dann! Es war gerade mal Anfang Dezember, da wurde die Kiste geöffnet! Von Kindern!!!
Jede Kugel wurde aus der sicheren Papierhülle herausgefischt, von klebrigen Patschehändchen begrapscht und dann wieder wahllos zwischen die Zeitungspapierberge geworfen.
Die sensible rote Kugel war starr vor Entsetzen und machte sich auf alles gefasst. Als sie dann dran war, rief eine fremde Frau aus dem Hintergrund: „Kinder, haltet doch mal still für ein Foto.“
„Oh ja, still halten. Und bitte ganz vorsichtig sein. Und bloß keine Kugeln werfen – mich schon gar nicht. Bitte.“ Hätte sie sprechen können, sie hätte um Gnade gefleht.
Aber – Blitz – schon ging es weiter mit dem Wühlen in der Kiste. Und eines von den ungezogenen Kindern rief: „Boah, Omas Kugeln sind ja sooo langweilig. Alle nur ödes Rot und Gold. Ich will unsere schöne Weihnachtsdeko wieder!“
„Ödes Rot??? Na, Rotznase, geht‘s noch? Das ist ja eine Unverschämtheit ersten Ranges! Will mal bitte jemand von den Erwachsenen dieses ungezogene Kind zurechtweisen. Wird‘s bald???“ Die Gedanken der roten Christbaumkugel überschlugen sich, doch – wie das nun mal bei Christbaumkugeln so ist – sie konnte sich den Menschen gegenüber nicht verständlich machen. Und während sie innerlich immer aufgeregter wurde, konnte man ihrer glatten Oberfläche nichts, aber auch gar nichts anmerken. Außer vielleicht, dass sie ein ganz klein wenig trüber aussah als sonst – aber um das wahrzunehmen, musste man sie schon ganz genau kennen.
Und dann fing die Familie doch glatt an, einen Baum zu dekorieren. Einen PLASTIK-Baum, um Himmels willen. „Weil der echte ja doch nur Dreck macht und nadelt und bis Weihnachten total blöd auschaut!“ sagte die Mutter.
„Na klar, wenn ihr ihn schon am ersten Advent aufstellt – ihr Traditions-Ignoranten!!!“ schrie es in der Christbaumkugel. Aber sie ergab sich doch stumm ihrem Schicksal.
Da hing sie dann ganz unten an dem Plastik-Dekoständer. Und war sauer. Unglaublich sauer. Weil man sie einfach so ignorieren konnte. Und weil ihre ganzen Kolleginnen in der Kiste bleiben durften. Während sie hier hängen musste, wochenlang! Zwischen Mickey-Mouse-Kugeln, überdimensionierten Zuckerstangen, Blinke-Lichtern in allen Farben und neben ihr – großer Gott im Himmel – einem Rennauto mit LED-Scheinwerfern.
Kein Lametta, keine echten Kerzen, keine Weihnachtstradition. Wo war die rote Christbaumkugel da nur hingeraten…
Die Wochen bis Weihnachten zogen sich hin, und die Christbaumkugel wurde immer betrübter. Kein Mensch beachtete sie da unten am Baum. Und je länger der Baum im Wohnzimmer stand, desto uninteressanter wurde er für die Familie. Oh, wenn die rote Christbaumkugel hätte schreien können – da wäre ihr mancherlei eingefallen…!
Und dann kam noch ein Neuzugang in den Haushalt. Der Christbaum war endgültig völlig uninteressant geworden. Denn die ganze Familie befasste sich nur noch mit dem neuen Kätzchen. Na ja, zugegeben, es war schon auch irgendwie niedlich, wie es das Wohnzimmer erkundete und dabei ziemlich viel Unfug anstellte.
Dann entdeckte das Kätzchen die rote Christbaumkugel. Und stupste sie leicht mit der Pfote an. Die Kugel freute sich, dass endlich mal wieder jemand von ihr Notiz nahm. Die Mutter nahm das Kätzchen weg – aber im nächsten unbeobachteten Moment war es wieder da und ließ die Kugel schaukeln. Das sanfte Schaukeln war doch mal eine nette Abwechslung zum ewigen Herumhängen – die rote Christbaumkugel konnte sich ein sanftes Strahlen nicht verkneifen. Mit der Zeit gefiel es ihr so gut, dass sie dachte: „Stups mich ruhig stärker an, Kätzchen. Ein wenig Abenteuer kann nicht schaden…“ Und, als ob die Katze das gehört hätte, gab sie ihr einen stärkeren Pfotenhieb. Die rote Kugel wollte sich fast kugeln vor Lachen. Und die Katze hielt sie in Bewegung. War das ein Spaß.
Aber dann merkte die Kugel, wie sie ins Rutschen kam. Sie hatte das Gefühl, dass der glatte Plastikzweig sie nicht mehr lange würde halten können. Und sie versuchte noch, die Katze zu warnen – doch das verspielte Kätzchen ließ sich nicht mehr bremsen und schubste und stupste weiter.
Dann ging es ganz schnell. Der Christbaumzweig bog sich nach unten, und plumps, da war‘s passiert.
Die Katze erschreckte sich so, dass sie sofort das Weite suchte.
Die rote Christbaumkugel war perplex. Sie brauchte erst einen Moment, um zu realisieren, was passiert war.
Als erstes merkte sie: Sie war nicht kaputt gegangen. Ihre dünne Glasoberfläche war heil. Denn sie war ja ganz unten am Baum gehangen und der Teppich war weich und sie hatte sich ganz elegant abgerollt. „Alles okay. Nix passiert.“ Und sie strahlt vor sich hin. Was für ein Abenteuer!
Als die Mutter die Kugel am Boden liegen sieht, hebt sie sie auf, wischt sie sanft mit einem weichen Tuch ab und sieht sich selbst auf der glänzenden Oberfläche gespiegelt. „Eigentlich passt dieser amerikanische Kitsch-Christbaum gar nicht zu dir. Vielleicht wäre eine etwas traditionellere Dekoration tatsächlich auch mal wieder schön…“
Und die Mutter nimmt eine große flache goldene Schale. Legt ein paar echte Tannenzweige hinein. Stellt eine dicke dunkelrote Wachskerze in die Mitte.
Dann nimmt sie die Kiste mit Omas Weihnachtsschmuck nochmal heraus und wischt eine Kugel nach der anderen mit dem weichen Tuch ab. Jede findet ihren Platz in der Schale – und ganz zuoberst thront die rote Christbaumkugel und strahlt.
Die Mutter stellt die Weihnachtsschale auf den Gabentisch. Daneben legt sie nach und nach alle Geschenke für die Kinder und auch eines für ihren Mann. Und die Christbaumkugel kann von ihrem neuen Platz aus jede Bewegung im Raum spiegeln.
Dann zündet die Mutter die Wachskerze an und ruft die Kinder zur Bescherung. Und mit jedem Geschenk, das überreicht wird, glänzen die Kinderaugen mehr. Und mit jedem Glänzen, das die Christbaumkugel widerspiegelt, wird die Stimmung weihnachtlicher. Und mit einem Mal kommt es der glänzenden roten Christbaumkugel so vor, als ginge es an Weihnachten genau darum: Vor Freude zu glänzen…
Als die Christbaumkugel nach den Feiertagen wieder bis zum nächsten Fest ihren angestammten Platz mit den anderen Kugeln zwischen viel Zeitungspapier einnahm, da wusste sie zwei Dinge:
Die wichtigste Weihnachtstradition ist, sich zu freuen und den Menschen eine Freude zu machen.
Und: Die rote glänzende Christbaumkugel ist längst nicht so zerbrechlich, wie sie dachte.