Bist du „zu still“? Oder bildest du dir das nur ein?

von Christine Winter

17.11.2019

Bist du wirklich zu still?

Ich kannte mal eine junge Frau, die hatte eine ziemlich geschwätzige innere Stimme. Und diese innere Stimme wiederum führte pausenlos ungefähr folgenden inneren Monolog:

“…wenn du nur so wärst wie alle anderen, dann wärst du genau richtig.
Aber weil du nicht so bist wie die… Da muss doch etwas mit dir nicht stimmen.
Du bist eben zu still. Geradezu peinlich, wie du stundenlang zuhörst, ohne auch mal was zu sagen..
Alle sind gesprächig, wenn du sie triffst. Manche sind sogar ziemlich nervtötend in ihrer Gesprächigkeit. Und oft auch irgendwie übertrieben gut drauf.
Nur du, du bist immer so bedächtig. Zu langsam. Und laaangweilig.
Bis du mal etwas sagst, musst du es dreimal durchdacht haben. Mindestens. Und in einer Gesprächsrunde ist längst wieder ein anderes Thema dran, bis du endlich weißt, was du beitragen könntest.
Dann ärgerst du dich über mich selbst. Und kriegst eine Weile gar nicht mehr mit, worüber eigentlich gesprochen wird. Das ärgert dich dann noch viel mehr. Lieber Himmel…!
Wenn du anders wärst, wärst du genau richtig. Aber so, wie du bist, wird das nie mehr was mit dir.
Du denkst aber auch oft so einen Quatsch. Wenn die anderen wüssten, was in deinem Kopf alles vorgeht, dann würden sie erst recht denken, dass etwas mit mir nicht stimmt.
Meine Güte! Wenn die wüssten, wie viel Unsinn dir jeden Tag durch den Kopf geht… Wahrscheinlich ist es echt besser, dass du so wenig von dir sprichst.
Kein Wunder, dass in deinem Leben nichts so ist, wie du es dir in deinen heimlichen Träumen ausmalst.
Wenn du nur ganz anders wärst. Dann wäre alles ganz einfach.
Aber so…”

Die innere Stimme war sehr überzeugend. Also war sich die junge Frau in einem Punkt völlig sicher:

“Anders” ist besser. Egal wie – sie müsste ganz anders werden, damit sie sich selbst mögen könnte.
(Und damit die innere Stimme endlich mal die Klappe halten würde.)

Es gab dabei ein Problem: Die junge Frau hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie “Anders” wirklich war. (Und ihre innere Stimme auch nicht.)
Und so blieb “anders werden” ein unerreichbares Hirngespinst. Jahrelang.

Wenn ich anders wäre, wäre ich richtig

Diese junge Frau war ich.
Als ich fünfzehn war – und als ich zwanzig war – und als ich fünfundzwanzig war immer noch.

Dann, endlich, habe ich etwas geändert. Ich habe nicht mehr nur davon phantasiert, wie toll ich “Anders” sein könnte. Sondern ich habe angefangen, Fragen zu stellen. Ganz konkret. An echte andere Menschen.

Ich habe zum Beispiel Menschen gefragt, ob sie sich selbst für “genau richtig” halten. Und, große Überraschung: Niemand findet sich selbst rundum richtig, so wie er/sie ist.

Oder ich habe gefragt, was “die Anderen” am liebsten an sich selbst ändern würden. Und Leute, die sich selbst für “zu still” hielten, wünschten sich, weniger still zu sein. Wohingegen Leute, die sich für “zu aktiv” hielten, gerne mehr Ruhe und Bedächtigkeit ausgestrahlt hätten. Alle wollten anders sein als sie sind.

Oder ich habe gefragt, was Leute an sich nicht mögen. Und sie nannten meistens genau den Charakterzug, der sie am meisten als Person ausmachte. Also das, was mir als “ganz typisch” in Erinnerung geblieben war, wenn ich jemanden länger nicht getroffen hatte.

Stell doch mal dein „zu still sein“ in Frage

Fragst du dich auch dauernd: “Warum in aller Welt bin ausgerechnet ich so zurückhaltend? Warum bin ich nicht so, wie die anderen sind?”

Das kenne ich.

Ich habe mich das viele Jahre lang gefragt – bis ich endlich akzeptiert habe, dass diese Art von Fragen mich nicht weiterbringen.

Irgendwann habe ich den Spruch “Sei du selbst, lass die anderen anders sein” zu meinem Lieblingsspruch gemacht. Denn wenn die Anderen nicht anders als ich wären, wären sie ja nicht “die Anderen”.

Möchtest du die Überzeugung „Ich bin zu still“ mal in alle Einzelteile zerpflücken?

Ich gebe dir einige Fragen – und ich bin fast sicher, dass dir an einigen Stellen eine neue Sichtweise ins Bewusstsein fallen wird. Ein „Einfall“ im allerbesten Sinne des Wortes…

„Ich bin zu still“ – für wen? Für wen nicht?
„Ich bin zu still“ – in welcher Situation? In welcher Situation nicht?
„Ich bin zu still“ – für was? Für was nicht?
Im Vergleich wozu bist du „zu still“?
Im Vergleich mit wem bist du „zu still“?
Warum änderst du es nicht? Warum bist du „zu still“, obwohl du es lieber nicht wärst?
Wie wärst du denn, wenn du nicht mehr „zu still“ wärst?
Wer wärst du, wenn du anders wärst?
Wie würdest du einer anderen stillen Person erklären, was du unter „zu still“ verstehst? Wie würdest du es einer sehr direkten, aufbrausenden Person erklären?
„Du bist zu still“ – hat dir das schon jemand so gesagt? Oder ist es etwas, das von deiner inneren Stimme gesagt wird?
Gibt es Themen, Momente, Situationen oder Personen, bei denen du nicht „zu still“ bleiben kannst?
Magst du es, wenn andere Menschen zurückhaltend sind? Warum? Oder warum nicht?
Magst du es, bei intensiven Diskussionen dabei zu sein? Warum? Oder warum nicht?
Was gefällt dir an Menschen, die im direkten Kontakt intensiv und wortgewaltig sind? Was nicht?
Bedeutet „zu still“ immer etwas negatives?
Wer wärst du, wenn „zu still“ sein kein Teil deines Wesens wäre?

Was genau empfindest du als ZU still?

Es gibt ja keine Vorschrift, die besagt, wie sehr du dich bemerkbar machen musst, damit du nicht zu still bist. Und es gibt auch keine “Zeig-Dich-Polizei”, die überwacht, dass niemand zu unscheinbar wird. Es gibt nicht mal konkrete Regeln, um festzustellen, wann jemand als zurückhaltend, ruhig oder introvertiert bezeichnet werden kann.

1. IST MAN ZU STILL, WENN MAN NICHTS SAGT?

Es gibt erstaunlich viele Zitate, die in den sozialen Medien gerne geliked und häufig geteilt werden und davon handeln, dass Schweigen besser ist als Reden.

Ein paar Beispiele:

Der Leise hat eine starke Stimme.

Aus China

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Deutsches Sprichwort

Aus der Stille werden die wahrhaft großen Dinge geboren.

Thomas Carlyle (1795 – 1881)

Das klingt nicht unbedingt so, als ob es verkehrt wäre, still zu sein.

(Zugegeben: Es gibt mindestens ebenso viele gern geteilte Zitate, die das Gegenteil propagieren. Es ist halt – wie alles im Leben – Geschmackssache…)

2. IST MAN ZU STILL, WENN MAN NICHTS DENKT?

Meditation – also das gezielte Still-Werden der Gedanken – ist ein großer Trend. Wenn erfolgreiche Menschen nach ihren Erfolgsgeheimnissen befragt werden, ist die Meditation ein sehr häufig genanntes Rezept.

Es scheint also nicht verkehrt zu sein, wenn die Gedanken still sind.

3. IST MAN ZU STILL, WENN MAN NICHTS MACHT?

Es gibt einige Modewörter, die den Zustand von “nichts machen” beschreiben.
Rumhängen.
Abhängen.
Relaxen.
Chillen.
Chillaxen.
Kann ja alles nicht so verkehrt sein…

4. IST MAN ZU STILL, WENN MAN EINFACH NUR GERNE DABEI IST, STATT MITTENDRIN ZU SEIN?

Wenn du mich fragst, war “Mittendrin statt nur dabei” vor zwanzig Jahren ein netter Werbespruch eines Fernsehsenders.
Als Lebensweisheit taugt er aber nicht.

Es gibt immer Menschen, die gerne dabei sind und ungerne im Mittelpunkt stehen. Und das ist überhaupt kein Problem, weil im Mittelpunkt eh nicht für alle Platz ist.

Da es keinen allgemeingültigen Maßstab gibt, findet letztlich jeder sein eigenes Maß.
Das kann durchaus von Situation zu Situation und von Tag zu Tag anders sein.

TATSACHE IST:

Man ist nicht entweder still oder nicht.
Wir alle sind mal mehr und mal weniger ruhig.

Und weil wir alle bei uns selbst viel kleinlicher und mäkeliger sind als bei allen anderen Menschen, frage ich jetzt mal so:

Was ist dein persönliches Maß für “zu still” bei den Menschen um dich herum?
Wann findest du, dass eine andere Person wirklich “mehr aus sich herausgehen” müsste?
Was müsste diese Person machen, damit sie dich mit ihrem “zu still sein” so richtig auf die Palme bringt?

Ich weiß, was du an dir „zu still“ findest

Du vergleichst dich mit einer Persönlichkeit, die so ganz anders ist als du. Immer mittendrin, immer in Action, immer scharfsinnig und charismatisch und am Diskutieren, immer wortgewandt und unterhaltsam.

Es gibt solche Menschen. Sie sind vergleichsweise selten, aber sehr speziell und daher ziemlich auffällig. Denn sie sprühen vor Energie und Esprit und überhaupt… Und sie sind definitiv unüberhörbar.

Aber mal angenommen, du müsstest die nächsten 24 Stunden in einem geschlossenen Raum ununterbrochen mit einem Menschen zusammen sein, der genau so ist…

Wie fändest du das?

Weißt du, was ich glaube?

Du bist nicht „zu still“, sondern genau richtig. Einfach nur, weil du du bist.
Aber deine Idee davon, wie du „genau richtig“ bist, könnte ein Update vertragen.

Du hast so viele Stärken. Die sind alle bereits da. Und dein zurückhaltendes Wesen ist ein Teil davon. Denn genau diese Kombination aus deinen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Eigenheiten hat kein Anderer. Nur du!

Wenn du anders wärst, wärst du nicht mehr du!

Und das wäre ganz enorm schade.

Das heißt nun nicht, dass du dich nicht weiterentwickeln darfst. Das ganze Leben ist ja im Grunde nur dazu da, dass du immer mehr von deinen Stärken zeigst, damit die Bereiche, in denen du noch keine Stärken entwickelt hast, eine geringere Rolle spielen.

Stärken (die schon da sind, aber noch mehr Potenzial mitbringen) weiterzuentwickeln ist eine großartige Idee. Und ich bin überzeugt, …

Nein, ich bin nicht nur überzeugt. Ich weißt ganz genau, dass du auf deine stille Weise unendlich viele Stärken und Potenziale besitzt.

Also:

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine

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  1. Inzwischen habe ich sehr viel gelesen über Situational oder Selektiven Mutismus, als auch über Sprachbehinderung ausgelöst durch Autistische Catatonia.
    Ich erlebe beides und finde es wichtig, das man da einen klaren Unterschied macht.

    In der Schule habe ich Selektiven Mutismus oft erlebt…

    Letzte Woche hat es mich wieder mal erwischt, und ich ging in Freeze/Shutdown und konnte vor Angst nicht reden. Diese Situation wurde erzeugt durch Stress aber auch durch Scham.
    Wenn ich überfordert bin, zu viele Fragen an mich gerichtet werden die zu viele offene Antworten zulassen oder ich die Situation nicht verstehe, dann läuft der Motor heiss und ich friere ein und höre auf zu kommunizieren.. die Sprache geht abhanden oder es kommt nur im stakkato oder sehr gebrochen..

    Dies ist dann eben, wo ich mich behindert fühle – weil es mich daran hindert, leistungsfähig und funktional zu sein und mein Leben in den Griff zu kriegen.

    Dann gibt es aber den Mutismus, der durch mentale, energetische ÜBERFORDERUNG geschieht.
    Und dies ist extrem schwierig zu kommunizieren, weil das Hirn wie auf Halbmast funktioniert.
    Man versteht dann auch schlecht, was andere sagen, alles ist verlangsamt, man fühlt sich extrem müde und hat Nebel im Hirn..und Worte fühlen sich an, wie Kartoffeln im Mund, die man kaum rauskriegt…
    Dies kann geschehen bei Sensory overload auch wenn man als sogenannt “hochfunktional” diagnostiziert wurde.
    DAs Umfeld ist deshalb für eine Autist enorm wichtig in diesem Fall und man sollte möglichst alle Stressoren reduzieren so das eben diese Art von ÜBERFORDERUNG und Autistische Catatonia/Shutdown Zustände mit System Overload möglichst verhindert werden können.

    Wenn so eine SHUTDOWN/CATATONIA state mal passiert ist, dann brauche ich mind. eine Woche bis zu einem Monat, um mich wieder erholen zu können.
    Ich bin nicht der Typ, der im Bett bleibt, aber ich ziehe mich sozial extrem zurück und gehe kaum aus dem Haus und reguliere mich mit Research und Lesen..

    Und wegen dieser ÜBERFORDERUNG im Sozialen Bereich ist es eben auch so schwierig, an Ausbildungen teilzunehmen, wie schon gesagt, wenn ich mich in Gruppen begeben muss, ich bin fix und fertig danach, es kostet soviel Energie.
    Und dadurch kommt es zu Fibromyalgie und Migränen und Erschöpfung..

    Aber auf meiner Autismus Diagnose steht einfach “Asperger Autismus” was mich als “hochfunktional” einstuft, was ich aber wirklich nicht immer bin…

    1. Liebe Corina,
      zu wissen, dass es Situationen gibt, in denen die Sprache wegbleibt, ist gut – und wenn du die Überforderung kennst, die das auslöst, gibt dir das die Möglichkeit, die Auslöser bestmöglich zu "dosieren".
      (Das klappt nicht immer. Aber "überwiegend" ist auch eine ziemlich gute Quote.)

      Mindestens genauso hilfreich finde ich, auch an alles das zu denken, was funktioniert und keine Sprechblockaden macht. Mir scheint, dass da bei dir eine Menge Stärken zu finden sind.

      Auch dein Wissen darüber, wie du deine Energie einteilen und nach Überforderungserfahrungen gut für dich sorgen kannst, sind solche Stärken. 🙂

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