Wenn ich anders wär, würd‘s mir besser gehen…

Christine Winter // Sonst so...

31. Oktober 2016  

Stell dir eine Gruppe von zehn Frauen vor. Sie haben sich zum Austausch getroffen. Alle sind unterschiedlich. Alle sind auf ihre Weise ganz besonders. Sie sind vom Alter, vom Lebensumfeld, von den gemachten Erfahrungen her völlig verschieden. Und sie erzählen von sich.

Das gemeinsame Thema in der Runde: Ernährung.

Jede Geschichte ist berührend. Jede Frau erzählt von Erlebnissen, die sie schon früh im Leben davon überzeugt haben, dass sie nicht so sein darf, wie sie als kleiner Stöpsel nun mal war.

Die Geschichten gehen über Jahre, Jahrzehnte – bis heute. Und sie enden alle mit: Ich bin zu dick. Wenn ich anders wäre, dann…


 

Ich saß in dieser Gruppe von großartigen Frauen und habe meine eigene Gewichts-Geschichte erzählt – und sie endete mit meiner Überzeugung, dass ich anders sein müsste.

Nun kannst du mich nach den Fakten über meine Zentimeter und Kilos fragen, kannst die eine oder andere Rechenformel damit füllen… Und du stellst fest: Isso. Christine ist viel (!) zu klein für ihr Gewicht und ihren Bauchumfang.

Nach gängigen Rechenregeln wäre ich okay, wenn ich mit meinem Gewicht 1,98 Meter groß wäre.

Sei wie du bist, nur anders.

Nun erwartet wohl niemand, dass ich spontan 30 Zentimeter größer werde – auch nicht, wenn ich es noch so sehr wollen würde. Ich erwarte das auch nicht. Schließlich bin ich längst ausgewachsen.

Andererseits scheint aber völlig klar zu sein, dass ich jederzeit 25 Kilo leichter werden könnte, wenn ich es wirklich wollen würde. Das ist schließlich nur eine Sache des festen Willens und der richtigen Ernährung und/oder Bewegung.

Natürlich bin ich als Mensch gleich wertvoll, egal ob ich dick oder dünn bin. Wir leben schließlich in einer diskriminierungs-freien „Jeder-wie-er-mag-Gesellschaft“. Dafür gibt es Gesetze, die einklagbare Rechte auf Gleichbehandlung enthalten.

Niemand hat das Recht, mir zu signalisieren, dass ich anders sein müsste.

Aber woher kommt dann das immerwährende Gefühl, „verkehrt“ zu sein???

Normal sein – das wär‘s.

Ich brauche längst niemanden mehr, der mir sagt, dass ich anders sein müsste.

Die Idee, dass ich nicht „richtig“ und nicht „normal“ bin, sitzt ganz tief in meinen ganz eigenen Überzeugungen.

Ich kann so tun, als ob mich das nicht interessiert. Darin bin ich ziemlich gut. Ich habe jahrzehntelange Übung…

Aber ehrlich gesagt: Es stimmt nicht.

Ich wäre sehr gern normal und richtig. Ich habe ganz innen drin in meinen „Grundeinstellungen“ festgelegt, dass alles gut wäre, wenn ich allen Normen entsprechen würde.

Und dann ist da das Leben, das mir immer wieder Erfahrungen beschert, die mich davon überzeugen, dass das niemals der Fall sein wird.

Ich werde in diesem Leben keine 1,98 Meter groß sein. Und ich werde keine 69 Kilo leicht sein.

Dann gibt es da einen ganzen Haufen andere Eigenschaften, die ich auch nicht haben werde. Manche sind wie die Zentimeter meiner Körpergröße einfach aus biologischen Naturgesetzen heraus unmöglich. Andere sind „nicht meins“ und ziemlich unrealistisch, obwohl sie theoretisch schon erreichbar wären.

„Normal“ ist keine Lösung.

Was als „normal“ bezeichnet wird, ist der Durchschnitt aller Menschen.

Normal zu sein bedeutet, dass man genau dem Mittelmaß entspricht.

Und in allen Lebensbereichen mittelmäßig zu sein, fände ich nun ehrlich gesagt ziemlich öde und unsinnig.

„Perfekt“ ist auch keine Lösung.

Um mal bei Maßen und Gewichten zu bleiben: Welcher Körperbau ist perfekt?

Und in allen anderen Lebensbereichen kannst du dir die gleiche Frage stellen…

„Perfekt“ ist kein Maß der Dinge. Es ist eine nach oben offene Skala – denn irgendwo gibt es immer einen, der noch besser darin ist, einen Lebensbereich perfekt zu meistern.

Würden wir diesem perfekten Menschen auf den Zahn fühlen, dann würde er ziemlich schnell ziemlich viele Lebensbereiche zugeben müssen, in denen er nicht mal durchschnittliche Leistungen abliefert. (Die zeigt er natürlich nicht freiwillig – sonst würde es einen unangenehmen Schatten auf seine Perfektheit werfen.)

Wenn du mal die Gelegenheit hast, jemandem, den du aus tiefsten Herzen bewunderst, die Frage zu stellen, wo er seine Schwächen sieht, dann frag ihn.

Die Antwort wird dich mit Sicherheit völlig aus den Socken kippen.

Wir sind Schwächen-Experten.

Die Antwort auf die Frage nach Schwächen kommt in aller Regel wie aus der Pistole geschossen. Und die Liste ist lang.

Wir alle sehen alles, was weniger als perfekt an uns und unseren Aktivitäten ist.

Stundenlang können wir mühelos aufzählen, worin wir schon gescheitert oder unter unseren Möglichkeiten geblieben sind.

Hast du mal probiert, mit der gleichen Akribie und Konsequenz aufzuzählen, wo deine Stärken liegen?

Ja? Echt? – Und hat es funktioniert???

Wenn ja: Schreib mir einen Kommentar hier drunter. Wir sollten dringend unsere Erfahrungen austauschen, was das mühelose Aufzählen von Stärken angeht.

Stärken stärken, damit die Schwächen weniger ins Gewicht fallen

Bei einem Luciano Pavarotti war das Gewicht kein Thema – sobald er zu singen angefangen hat. Man hat ihn für Opernrollen des jugendlichen Liebhabers besetzt, obwohl er ganz sicher nicht (mehr) so aussah. Das Publikum hat teure Eintrittskarten gekauft und war restlos begeistert.

Für den Gesang hat er unzählige Stunden geprobt, geübt und an sich gearbeitet. Und doch war er als Sänger nicht perfekt – wenn auch meistens unendlich viel besser als durchschnittlich.

Die Frage an dich ist: Welche Stärken hast du? Was macht dich besonders?

Und dann: Was machst du daraus?

Und schließlich: Wann, wo und für wen wirst du zeigen, was dich ausmacht?

So lang die dicke Frau singt, ist die Oper nicht zu Ende. 😉

Ich habe mich mein Leben lang auf die verschiedensten Weisen mit meinem Gewicht und mit meinen Essgewohnheiten beschäftigt. Wenn du so willst, bin ich eine echte Expertin für das Thema.

Und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann gibt‘s schon etliche Sachen, die ich richtig gut drauf habe – was Essen und Abnehmen angeht.

Weißt du was? Ich werde die nächsten Tage so viel wie möglich von dem machen, was für mich funktioniert. Und ich werde dabei weder voraussetzen, dass ich danach 1,98 Meter groß bin, noch, dass ich 69 Kilos wiege.

Ich werde mich einfach über das freuen, was ich gut kann und leicht umsetze.

Falls dadurch der Hosenbund in einiger Zeit weniger kneifen sollte, wäre das ein ziemlich grandioses Ergebnis von meiner Übung in mehr Leichtigkeit. 🙂

Und die anderen Frauen…?

Jede einzelne von den Frauen in der anfangs angesprochenen Runde hat mich beeindruckt. Ich brauchte nur genau hinzuhören und hinzuspüren – und den ersten Eindruck so lange vertiefen, bis Schwächen und Äußerlichkeiten überhaupt nicht mehr von Bedeutung waren.

Denn natürlich wäre keine von uns auf die Idee gekommen, sich den anderen Frauen mit dem vorzustellen, was sie am besten kann und was sie besonders macht.

Im Nachhinein denke ich mir… Wir hätten mit dieser Frage in unser Treffen einsteigen müssen:

Was macht dich – jenseits aller Maße und Rechenformeln – zu einer ganz besonderen Frau? Wofür kann ich dich bewundern, weil ich niemals auch nur im Ansatz so großartig wie du sein könnte?

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine

PS: Danke an Annika aka. „Sudda“ und an Helga für’s Organisieren, Tun und Machen – ich habe sooo viele Gedanken mitgenommen…