Was mir Corona über wissenschaftliche Forschung beigebracht hat

Christine Winter // Sonst so...

14. Juni 2020  

Das Leben ist der beste Lehrer - ob wir das wollen oder nicht

Man kann aus allem etwas lernen, was das Leben uns als Hürde vor die Füße schiebt - auch (oder vielleicht sogar ganz besonders) aus den Erfahrungen, die man nicht unbedingt hätte machen wollen.

Zum Beispiel aus diesem Corona-Shutdown. Der hat sich an einem Freitag dem 13. in mein Leben gedrängt, ohne zu fragen, ob es mir gerade passt. Und die plötzlichen Veränderungen haben ziemlich viel auf den Kopf gestellt - oder auf unbestimmte Zeit in die stille Ecke…

Daran war (und ist) nicht viel zu ändern.

Ich habe seit dem 13. März 2020 enorm viele und intensive neue Erfahrungen gesammelt - das habe ich wohl zuletzt als Kleinkind erlebt. Alles neu, alles anders, alles muss hinterfragt und experimentiert und neu herausgefunden werden.

Nach einem Vierteljahr kann ich nun mal ein erstes Fazit in einem Teilbereich meiner Experimente und Erkenntnisse ziehen.
Corona fordert mich weiterhin in vielerlei Hinsicht heraus und stellt mein Denken immer noch in einigen Bereichen auf den Kopf - aber im Hinblick auf Wissenschaft und den Nutzen von Forschung kann ich mittlerweile einige meiner “Learnings” benennen.

Corona lässt mich wissenschaftliche Forschung neu betrachten

Ich hatte in einem früheren Text schon erwähnt, dass meine Lieblingsquelle für Informationen über CoViD-19 das Corona-Virus-Update als Podcast des NDR war und ist.

Und aus der Tatsache, dass ich mir mit jeder neuen Podcast-Folge eine Stunde lang zutiefst wissenschaftliche Inhalte anhöre und es kaum erwarten kann, bis die nächste Folge kommt, habe ich schon eine ganze Menge über mich (und über mein Informationsbedürfnis) gelernt.

1) Lernen braucht Ausführlichkeit - und Neugier

Nein, ein Podcast macht mich nicht zur Virologin.

Ich gebe gern zu, dass ich manchmal mit Faszination zuhöre, obwohl ich im Detail kaum etwas verstehe. Was mich fesselt, ist vor allem diese mir völlig fremde Art des Denkens.  (Weil ich ja generell alle Menschen spannend finde, die deutlich anders sind als ich.)

Würde ich wirklich KÖNNEN wollen, was Professor Drosten lehrt, würde ich ein Medizinstudium plus Praxiserfahrung plus Forschungserfahrung plus eine wissenschaftliche Sicht auf die Welt im Ganzen und den Forschungsgegenstand im Detail brauchen.

Da habe ich überhaupt keine Lust drauf.

Was mir Spaß macht (und im Bezug auf CoViD-19 auch viel Sicherheit und Ruhe gibt) ist ein völlig laienhafter Einblick in eine Denk- und Arbeitsweise, von der ich vor Corona absolut keine Ahnung hatte. Mit einem kleinen Bisschen Ahnung wird es spannender und fühlt sich weniger bedrohlich an. Ich kann mir inzwischen mit ein wenig Hintergrundwissen meine eigenen Gedanken dazu machen und eigene Schlussfolgerungen für mein persönliches Verhalten ziehen.

Noch interessanter ist allerdings, dass ich beim Hören des Podcasts ganz viele Ideen gewonnen habe, die mit dem Inhalt der Sendungen gar nichts zu tun haben. Ich habe mich inspirieren lassen und Gedankenfragmente in meine eigenen Gedankenwelten aufgenommen und dort weitergedacht…

So funktioniert Lernen.

So macht Lernen auch unglaublichen Spaß - und die Frage “Wann bin ich denn fertig mit dem Lernen?” führt immer zur gleichen Antwort: “Hoffentlich nie!”

Ich habe auch etwas über das Lernen erkannt. Der Klugscheißer in mir sagt, dass man das als “Meta-Lernen” bezeichnet. Also sage ich es mal auf Klugscheißerisch:

Mein “Meta-Learning” ist, dass ich nichts lerne, wenn ich in den Nachrichten irgendwelche Info-Schnipsel am laufenden Band und ohne Zusammenhang über mich hereinbrechen lasse. Da komme ich nicht zum Mit-Denken.

Mein Lernen braucht Zeit. Ungestörte Gedankengänge - gerne eine ganze Stunde lang zum gleichen Thema. Ein interessanter Gedanke kann gar nicht zu lang dauern.

2) Dass es ein Problem geben wird, ist vorher nicht unbedingt planbar - obwohl es irgendwie schon vorhersehbar ist, dass ein Problem kommen wird

Mich hat Corona komplett unvorbereitet getroffen.

Dich wahrscheinlich auch.

Meine ersten Überlegungen, nachdem ich in voller Fahrt gestoppt worden war, gingen in Richtung “Das hat ja auch kein Mensch ahnen können. Sowas hat es noch nie gegeben - da sind jetzt alle gleichermaßen überrascht worden.”

Ich habe mit der Zeit gelernt, dass ziemlich viele Spezialisten ziemlich unüberrascht waren. Dass es für alle möglichen Szenarien bereits seit langem vorbereitete Pläne gegeben hat. Dass man durchaus Vergleiche zu bereits erforschten historischen Problemen anstellen kann. Und dass es Experten für alle erdenklichen Details gibt…

In der Forschung hat man durchaus für möglich gehalten, dass etwas passieren würde, was dann auch passiert ist.

Und ich habe fasziniert gelernt:

Wer genauer und mit geschultem Expertenblick durch die Brille der eigenen Expertise hinschaut, kann Dinge erkennen, die für Laien nicht nur unsichtbar, sondern auch undenkbar sind.

3) Veränderungen können linear ablaufen. Oder exponentiell. Oder völlig chaotisch.

Ich gestehe, dass mein Denken am Anfang der Corona-Zeit nicht besonders flexibel war.

“Es gibt EIN Problem”, dachte ich. “Also gibt es EINE Lösung”, dachte ich weiter.

Dann habe ich mit dem Denken erst mal aufgehört und auf DIE Lösung gewartet.

Mein Lernen dauerte ein wenig. 😉

Aber mit der Zeit wurde überdeutlich, dass im Bezug auf Corona keine schnelle, einfache, eindimensionale Lösung kommen wird. Sondern dass unendlich viele kleine Schrittchen aufeinander folgen, die im günstigsten Fall die Situation besser machen. Aber etliche von den kleinen Schrittchen führen auch auf Umwege oder Irrwege - was man aber erst später im Rückblick wirklich feststellen kann, weil mitten in den Schrittchen jeder kleine Schritt vorwärts führt. Irgendwie. Irgendwohin.

(Deswegen ist hinterher auch leicht klugscheißen - dann kann man ja deutlich sehen, welche Schritte zu brauchbaren Ergebnissen geführt haben. Und wo man sich verlaufen hat oder in eine Sackgasse geraten ist. Als man noch mitten im Dickicht stand, war nur klar, dass man vorangehen muss - um dann später zu sehen, wo man damit gelandet ist.)

Ich würde immer am liebsten lineare und logische Lösungen haben. Wer “A” gesagt hat, sagt als nächstes “B”. Und selbstverständlich ist “B” ohne jeden Zweifel vollkommen richtig.
Setzen. Eins. Toll gemacht.

So hat man mir das in der Schule beigebracht. Da gibt es auf jede Frage DIE richtige Antwort. (Im Zweifelsfall ist es immer die, die der Lehrer hören möchte. Das kriegt man als Schüler schnell raus.)

Das wirkliche Leben hat nicht ein “A” als Aufgabe für uns, sondern unzählige Alphabete. Also gibt es nicht ein “B”, sondern unvorstellbar viele verschiedene Buchstaben.

Und was dann damit passiert, ist nur selten linear-logisch.

Das mit den “exponentiellen Entwicklungen” kann mein Kopf allerdings immer noch nicht so richtig fassen. Mit dem Gedanken muss ich in einer ruhigen Minute (oder vielleicht auch in exponentiell mehr werdenden Stunden) nochmal spielen…

Zur Zeit lernt mein Kopf noch zusätzlich, dass auch die allerbeste Theorie vom ganz realen Chaos immer wieder neu auf die Probe gestellt werden kann. 

Aber wie heißt es so schön:

Der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung wechseln können.

4) Studien sind dafür da, Probleme zu erfassen und Beobachtungen zusammenzufassen - sie lösen das Problem deswegen noch lange nicht

Der (verständliche) Wunsch von uns Laien ist, dass es irgendwen gibt, der DIE Lösung hat und damit DAS Problem ausräumt.

Die Wissenschaft sieht sich aber für DIE Lösung weder als zuständig noch als kompetent an.

Wissenschaftler denken in dieser Hinsicht ganz anders als Laien.

In der wissenschaftlichen Arbeit werden Annahmen getroffen und daraus Fragen abgeleitet. Im günstigsten Fall kommen dabei neue Erkenntnisse zusammen, die die bisherigen Antworten in Frage stellen. Und dieses Frage-Antwort-Spiel wird von Wissenschaftlern innerhalb der Fachleute-Community immer und immer wieder gespielt - damit alle durch die Ideen der anderen auf neue Ideen kommen können.

Der Praktiker denkt sich: “Sag mir einfach entweder 'A' oder 'B'!”

Aber das muss der Praktiker anhand der wissenschaftlich ausgewerteten Beobachtungen schlussendlich selber entscheiden. Wissenschaft entlässt niemanden aus der Pflicht, sich über die Lösung (s)eines konkreten Problems seine eigenen Gedanken zu machen.

5) Forschung, die eine bisherige Überzeugung neu denkt, ist kein Fehler, sondern ein Erfolg

Gar nicht so einfach für uns Laien, wenn eine plötzlich komplett neue Ansicht als Fortschritt angesehen wird.

Mit unserer von der Schulausbildung geprägten Haltung “entweder ist etwas richtig oder es ist falsch” kommen wir da ganz schnell zur Schlussfolgerung: “Dann müsste es ja vorher die ganze Zeit falsch gewesen sein, wenn die Forschung jetzt sagt, dass es ganz anders als gedacht ist.”

Der Forscher schüttelt leicht verständnislos den Kopf.

Sinn von Forschung ist nicht, etwas als ein-für-alle-mal-richtig zu definieren. Es geht darum, immer wieder auf’s neue in frage zu stellen, was man schon weiß, um daraus neue Ideen für neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Wenn etwas “schon immer so gewesen” ist, ist es höchste Zeit, es mal zu hinterfragen.

Was nicht unbedingt bedeutet, dass es immer falsch gewesen war. Aber eben auch nicht, dass es immer richtig gewesen sein muss.

6) Und manche wissenschaftliche Erkenntnisse sind auch einfach immer Quatsch gewesen. Aber das sieht man erst im Rückblick…

Es gibt legendäre Denkfehler, bei denen man mit wissenschaftlichen Methoden einen Zusammenhang beweist, der in Wirklichkeit reiner Zufall ist.

Zum Beispiel die Beweisführung, dass Störche die Kinder bringen. Statistisch "nachgewiesen", tatsächlich natürlich (wie wir mittlerweile wissen) völliger Quatsch.

Hinterher kann man leicht klugscheißen - natürlich ist nachher (!) völlig klar, dass die Überlegung von Anfang an Unfug war. Am Anfang stand aber eine offene Frage und da war noch gar nichts klar.

Daneben gibt es auch Resultate von Studien, die in der auf wenige Zeiten eingedampften Zusammenfassung ziemlich plakativ klingen (und im gesamten Zusammenhang gelesen etwas völlig anderes aussagen - oder manchmal auch gar nichts konkretes).

Die Idee, dass zu viel Fett in unserem Essen für Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ursächlich sein soll, ist ein mittlerweile ziemlich bekannt gewordenes Beispiel dafür. Da hat man einfach in der Kurzfassung nicht erwähnt, dass in der Mehrzahl der Beobachtungen überhaupt kein solcher Zusammenhang beobachtet wurde...

Ein Ärgernis ist, dass solche Studien-Kurzfassungen von einigen nichtwissenschaftlichen Zeitschriften und Zeitungen dann zu einem langen spannenden Artikel aufgeblasen werden. Falls man sich dann die Mühe macht, die Studie im Ganzen zu lesen, kann man zum Teil gar keinen richtigen Zusammenhang mehr zwischen der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit und der drumherumgedrechselten journalistischen Arbeit erkennen.

Wir Laien sind aber darauf angewiesen, dass uns jemand die wissenschaftlichen Ergebnisse erklärt, denn zu den Studien bekommen häufig nur Wissenschaftler Zugang. Und selbst wenn wir ausnahmsweise die vollständige Studie im Internet zur Verfügung gestellt bekommen ist sie fast immer auf Englisch und in Wissenschaftlersprache verfasst - und wir sind darauf angewiesen, dass sie uns jemand erklärt...

7) Studien ändern nichts am individuellen Problem - aber ohne Studien bleibt jedes Problem ein individuelles

Ziel einer Forschungsarbeit ist nicht, dass ein einzelner Problembesitzer nachher die Lösung für sein konkretes Problem hat.

Wissenschaft arbeitet abstrakt und zielt nicht auf Lösungen, sondern auf Erkenntnisse ab. Daher wird in den meisten Wissenschaftsbereichen auch extrem viel mit Statistiken und Berechnungen gearbeitet. Wie zum Beispiel in der Corona-Forschung. Und in der psychologischen Forschung ebenfalls.

In den Studien werden möglichst große Datensammlungen von möglichst gezielt gewählten Beobachtungsgruppen nach allen Regeln der Statistik-Kunst bewertet und gewichtet und in verschiedenen Diagramm-Varianten dargestellt.

Das Ziel ist dabei, einen breiten Blick auf Zusammenhänge, Wahrscheinlichkeiten oder bisher übersehene Bezüge zwischen Datensätzen herzustellen.

Der einzelne Problembesitzer spielt für den Wissenschaftler nur als Datenquelle eine Rolle - und er hat hoffentlich für die Lösung seines Problems einen Umsetzungsexperten an seiner Seite. 

Bei CoViD-19 ist für die Umsetzung der Forschungserkenntnisse der behandelnde Arzt zuständig, der sich im besten Fall aktuell über die wissenschaftlichen Veröffentlichungen schlau gemacht hat und dann ganz individuell für den einzelnen Patienten die nach dem Stand der Forschung bestmögliche Behandlung festlegt. Oder auch der Politiker, der vom Robert-Koch-Institut über den Stand der Wissenschaft und die Datenlage informiert eine Entscheidung über Maßnahmen treffen muss.


Was hat MIR nun Corona über die Wissenschaft beigebracht?

  • Ich finde unglaublich spannend, zu erfahren, wie Wissenschaftler auf Probleme gucken.
  • Studien sind immer Vereinfachungen - allerdings auf einem ziemlich komplexen Niveau (das mein Laien-Hirn manchmal nicht erfassen kann).
  • Wissenschaft ist in vielen Bereichen vor allem Statistik und Berechnung - das individuelle Problem einer Einzelperson spielt da nur insofern eine Rolle, als es als Datensatz erfasst wird.
  • Zum Forschen gehört es, alle bisherigen Überzeugungen (die eigenen und die von anderen Forschern) zu hinterfragen und neue Überlegungen zu generieren.
    Das heißt weder, dass die früheren Annahmen falsch waren, noch dass die Forscher sich nie konkret festlegen wollen. Es ist einfach die Art, wie man wissenschaftlich arbeitet.
  • Die Wissenschaft löst am Ende nicht das Problem - das ist einfach überhaupt nicht ihr Job.