Ich bin auf Jonnas Blog auf den Gedanken gestoßen, dass Stille Menschen häufig besonders hohe Ansprüche an sich selbst stellen. Und dass sie sich überdurchschnittlich viele Gedanken darüber machen, was Hinz und Kunz und die Leute auf der Straße über sie denken könnten.
Meine Erfahrung ist, dass die meisten Leute, denen man den Tag über so über den Weg läuft, herzlich wenig über einen denken. Und sogar die Leute, die mich gut kennen, merken oft nicht – oder jedenfalls nicht gleich – wie es in mir drinnen aussieht.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich selbst auch den größten Teil des Tages meine Empathie-Antennen nicht ausgefahren habe. Es wäre viel zu anstrengend und – seien wir ehrlich – völlig irrelevant für mich, permanent darauf zu achten, ob die Frau an der Supermarktkasse oder der Typ neben mir in der S-Bahn gerade ein Problem hat oder nicht. Und außerdem geht es mich ja auch überhaupt nichts an.
Ein schüchternes Mädchen in der Bäckerei, ein einsam an der Ecke wartender Junge, eine tief in Gedanken versunkene Mutter mit Kinderwagen im Park, ein mit der Nasenspitze in seine Zeitung versunkener Mann in der S-Bahn… Wenn ich so jemanden überhaupt bemerke, gibt es jedenfalls keinen Grund, weiter darüber nachzudenken.
Aber wir Stillen Menschen wissen, dass wir etwas nicht hinkriegen, was für die meisten Leute vollkommen normal ist – und deswegen machen wir uns Gedanken, wo die meisten Leute gar nichts denken.
Wir versuchen, „perfekt“ zu sein. Wobei die Definition für „perfekt“ bei mir lautet: Besser, als ich jetzt gerade bin (und besser als ich überhaupt jemals sein kann).
Merkst du was???
Mein „perfekt“ ist überhaupt nicht schaffbar.
Weil ich jetzt gerade immer nur so gut bin, wie ich es in diesem Augenblick sein kann – und weil ich Grenzen habe, die ich genau jetzt nicht überwinden kann. (Was NICHT bedeutet, dass ich sie in der Zukunft nicht erweitern können werde, Schritt für Schritt…)
„Perfekt“ ist ein ziemlich untauglicher Maßstab für mich, um meine Leistungen zu messen.
Und deshalb übe ich von Zeit zu Zeit das „Unperfekt-sein“.
Wie ich meinen perfekt unperfekten Tag gestalte – nur so als Beispiel
Mein unperfekter Tag ist fast immer einer, an dem ich frei habe. Ich stehe spät auf, laufe den ganzen Vormittag im Schlafanzug herum und ignoriere jegliche Haushaltspflichten. Wenn ich beim Frühstück, das ausnahmsweise seeehr ungesund sein darf, Krümel auf und unter dem Tisch mache, lasse ich sie mit Absicht liegen.
Und dann schreibe ich einen Blogartikel, den ich absichtlich ohne Satzzeichen tippe und bei dem alle Tippfehler drin bleiben. (Natürlich überarbeite ich den dann an einem perfekteren Tag nochmal, bevor er online gestellt wird…) 🙂
Auf den Brief ans Finanzamt klebe ich einen neongelben Herzchensticker neben das „Freundliche Grüße“.
Später gehe ich raus und knöpfe meine Jacke schief zu. Und ich ziehe zwei verschiedfarbigen Handschuhe an.
Bei meinem Spaziergang hüpfe ich mit voller Absicht in eine Pfütze und sehe danach aus wie ein Kleinkind nach dem Matschkuchen-Fest auf dem Spielplatz. Und genau so frech ist auch das Grinsen in meinem Gesicht.
Das unvernünftige Abendessen wird auf der Couch vor dem Fernseher verspeist.
Und bevor ich schließlich ins Bett gehe, putze ich mir absichtlich nicht die Zähne.
Zugegeben ich mache das seeehr selten, weil ich mich mächtig konzentrieren muss, um einen ganzen Tag lang unperfekt zu sein.
Aber es muss ja auch gar kein ganzer Tag sein. Oft reicht ja auch die „unperfekte Mittagspause“ oder der „unperfekte Einkaufsbummel“. Oder auch nur eine einzige mutwillig unperfekte Aktion pro Tag.
Welche Ideen hast du für eine unperfekte Stunde? Wo könntest du dir vorstellen, den Perfektionismus mal ganz bewusst zu ignorieren und ganz und gar unperfekte Sachen zu machen? Du weißt ja, dass du deinen Perfektionismus anschließend wieder im Originalzustand zurückbekommst – du gönnst ihm nur mal eben eine kleine Pause…
Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine