November-Experiment: Alles zu meiner Zeit

Christine Winter // Experimente

26. November 2021  

November-Experiment: Alles zu meiner Zeit

Die Idee:

Mich nervt, dass ich mich sehr häufig unter Druck fühle, obwohl da - objektiv betrachtet - nichts und niemand Druck ausübt.

Und mich nervt, dass ich ganz automatisch "keine Zeit" denke, wenn ich einen Grund brauche, um eine spontane Idee vom Tisch zu wischen. (Dabei sind meine Ideen in aller Regel wesentlich sinnvoller, als das, was ich tue, wenn ich "keine Zeit" habe.)

Und dann war da noch die Zeitumstellung, die mich alle halbe Jahre wieder komplett durcheinanderbringt...

Also warum nicht mal meine Zeit erforschen?

Regeln:

Ich erforsche meinen Umgang mit der Zeit.

Mehr Regeln fallen mir gerade nicht ein.


Tag 0:

Zeitumstellungs-Sonntag - ich habe zarten Jetlag, wie jedes Jahr.

Zufällig wurde gerade gestern in der Bücherei-Onleihe das vorbestellte Buch verfügbar: "Alles eine Frage der Zeit".

Das zweite Kapitel fasziniert mich: Was wir heute unter Zeit verstehen, spielte keine Rolle, bevor die Uhr erfunden wurde und den Leuten beigebracht wurde, pünktlich und effizient zu sein. Deswegen ist in manchen Sprachen das Wort für Wetter und für Zeit identisch - vor 500 Jahren war das Wetter der einzige Grund, sich zu beeilen oder abzuwarten. ("Tempi passati" im Italienischen wird immer als "Die Zeit vergeht" übersetzt - aber es könnte genauso übersetzt werden als "Die Wetter gehen vorbei".)

Ich sitze - ganz ungewohnt - nach dem Lesen dieser Passage eine Weile still da und denke mir: Wie das wohl gewesen sein muss, so ganz ohne Uhren? Wenn man Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und dazwischen das Wetter als einzigen "Zeit"-Faktor hat...

Dann lese ich das Kapitel zu Ende und lerne: Unser digitales Zeitalter verabschiedet sich gerade wieder vom Zeitbegriff der letzten 500 Jahre. Alles hatte mal seine Zeit. Aber jetzt ist das vorbei, jetzt hat alles gleichzeitig und ohne Zeitverzug zu sein.

Ich sitze wieder... Gedanken kommen und gehen...

Will ich rund um die Uhr alles gleichzeitig und in Echtzeit?

Ich glaube nicht, dass ich da eine Wahl habe. Oder doch.

Und dann die Frage: Will ich daraus ein Experiment machen.

Die Antwort: Ja.

Ich habe eh gerade Jetlag und kein klares Zeitgefühl mehr. Und November ist der Monat, in dem ich zwar im Heimbüro schreibe und arbeite, aber keine Seminartermine habe und nur wenige Verpflichtungen.

Ich will wissen, wie das ist ohne Uhren.

Tag 1

Erstens: Uhren loswerden...

Das ging ja schnell: Ich habe schon lange nur noch vier Uhren in der Wohnung - eine mit Zifferblatt (!) im Wohnzimmer, eine Funk-Digitaluhr in der Küche, eine weitere im Bad. Und dann noch den Wecker.

Alle schnell eingesammelt, Batterie raus. Die Zeitmaschinen sind unschädlich gemacht.

(Ach ja, für meine Seminare besitze ich noch eine Armbanduhr. Die ich aber sonst nie trage. Die wird mein Notfall-Zeitgeber, falls es wirklich mal auf die Minute ankommen sollte in diesem Monat. Wenn sie nicht gebraucht wird, liegt sie an ihrem üblichen Platz in der Schublade im Flur.)

Zweitens: Computer-Zeitanzeigen loswerden

Hoppla. Auf allen digitalen Endgeräten kommst du an der Uhr nicht vorbei. Und am PC verbringe ich ja beim Schreiben und Arbeiten jede Menge Zeit des Tages, während unten rechts in der Taskleiste unübersehbar die Uhr tickt...

Aber man wird sie erstaunlich leicht los: Nur in den Windows-Einstellungen "Symbole für die Anzeige auf der Taskleiste" suchen und die Uhr auf "aus" stellen. Schwupps ist sie weg.

Auf dem Startbildschirm ist sie ebenfalls - zwar nur kurz nach dem Einschalten, aber dennoch überflüssig. Die lässt sich aber nicht eben mal schnell abstellen.

Die Betriebssystemhersteller halten die Uhr (nebst Zwang zum Anmelden am eigenen PC) für sicherheitsrelevant?

Könnte sein. Zeit ist schließlich Geld. Oder es interessiert schlicht keinen, dass die Uhr den halben Bildschirm einnimmt.

Für Windows 10 gibt's einen "Hack". Der ist aber schon recht technisch und ich übernehme dafür keinerlei Gewähr. Außerdem habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie Windows 11 damit umgehen wird. Also habe ich es dann erst mal so gelassen.

Drittens: Handy als Zeitgeber loswerden - oder lieber doch nicht?

Und nun noch die Gretchenfrage: Wie hältst du's mit dem Multifunktionsdevice, das nie weiter als eine Armeslänge von dir entfernt ist?

Ja, auch da könnte man die Uhr zumindest auf dem Startbildschirm ausblenden. Aber plötzlich erfasst mich eine heftige Unsicherheit - meinetwegen können wir es auch Angst nennen. Was, wenn mein Smartphone dann auch nicht mehr weiß, wie spät es ist?! Wie soll denn das gehen?

Für den Sperrbildschirm ist es schon mal nicht möglich - Android erlaubt schlicht nicht, die Uhr nicht anzuzeigen. Und auch wenn ich alle speziellen Uhrenapps und Zeitwidgets ausmachen würde, ist Android nicht gewillt, mir Zeit-Freiheit zu gewähren. Es wird wirklich überall die Uhrzeit in Apps und in der Benutzeroberfläche angezeigt...

Daher erweitert sich das Experiment spontan um eine weitere Regel: Handy bleibt permanent außer Reichweite, wenn ich in der Wohnung bin. Wenn ich rausgehe, nehme ich es aber mit (und wahrscheinlich ist es dann auch gar nicht so unklug, wenn ich die Zeit handy zur Verfügung habe - denn öffentliche Uhren werden immer seltener).

Tag 2

Ich sitze morgens auf dem Klo und denke:
"Keine Ahnung wie spät es ist. Habe ich es eilig??? Woran mache ich fest, ob ich schnell in die Dusche hüpfe oder mir in aller Ruhe den Morgen gestalte, wie ich mag?"

Ich sitze eine weitere Minute oder so auf dem Klo. Ein Gedanke huscht vorbei: "Was wäre, wenn ich meine Experimente nicht nur ins Tagebuch, sondern auf die Facebook-Page schreiben würde? - Weisste was, ich mach das einfach"

Und das gibt mir einen guten Grund, um vom Klo aufzustehen, schnell unter die Dusche zu springen und irgendwann kurze Zeit später am Schreibtisch zu sitzen. Und ich tippe meine bisher rein persönlichen Texte in den PC, der mich völlig im unklaren lässt, wie spät es gerade ist.

Anmerkung: Beim PC einschalten nervte mich der Startbildschirm mit der Riesenuhr dann doch und ich probierte den "Hack", den ich gestern gefunden hatte, um dort die Uhr loszuwerden. Hat funktioniert.

Und dann sitze ich zeitlos schreibend für... keine Ahnung wie lange... eine ganze Weile am Computer. Bis die Sonne sehr aufmunternd durchs Fenster scheint und ich Lust kriege, rauszugehen.

Tag 3

Wie mache ich das denn jetzt, wenn ich tatsächlich eine zeitlich konkret  festgelegte Verabredung für ein Online-Meeting habe? Auf mein Zeitgefühl kann ich mich (dank Zeitumstellung, die mir immer noch die innere Uhr verdreht) überhaupt nicht verlassen.

Und der paradoxe Trick ist: Ich stelle mir den Wecker am Handy. (Ja, das liegt in der Schublade im Flur, während ich in der Wohnung bin. Aber wenn dort - in der Schublade - der Wecker klingelt, dann höre ich es im Büro und komme pünktlich in mein Online-Gespräch.)

Meine Alarm-App namens "Better Alarm" verwende ich übrigens zu diesem Zweck schon seit Jahren. Sie erinnert mich immer genau zehn Minuten vor dem Termin mit einem deutlich hörbaren und für jede Sorte Termine anderen Jingle - weshalb ich nicht permanent das Handy checken muss, um keine Terminbenachrichtigung zu übersehen.

Und weil wir schon bei Android-Apps sind: Mit "Stay Focused" kann ich mich aus dem ganzen Handy aussperren und nur die paar wenigen Apps erlauben, die ich wirklich - WIRKLICH  -immer greifbar haben muss. Das sind bei mir 20 Stück, z. B. die Alarm-App, der Taschenrechner, der Covid-Pass, die Bahn-App mit dem Zugriff auf meine Online-Fahrscheine, der Kalender und die ToDo-Liste, die Yoga-App und die App mit den Atemübungen. Ach ja, und das Telefon natürlich - aber das brauche ich so gut wie nie.

Tag 4

Irgendwann in der Mitte des Tages...

Ich laufe durchs Wohnzimmer, starre auf den Platz, an dem früher die Uhr war. Starre eine Weile, bevor ich mich frage, was ich da mache.

Ich war eigentlich auf dem Weg ins Bad. Starre dort wieder auf den Platz, an dem früher eine Uhr war. Was mache ich da?

Ich gehe in die Küche. Keine Uhr, aber ich schaue sicherheitshalber doch nochmal da hin, wo früher eine war. Und dann dämmert es mir: Ich versuche gerade herauszufinden, ob es Zeit zum Essen ist.

Es ist Mitten am Tag - also irgendwie Mittag im weitesten Sinne. Und dann erst komme ich auf eine fantastische Idee... Ich könnte mich fragen, ob ich Hunger habe. Und wenn ja, dann könnte ich was essen.

(Manchmal ist Leben echt komplex, oder?)

Tag 5

Kein Kaffee nach 14 Uhr - das ist eine meiner Regeln, um Abends zu einer vernünftigen Zeit ins Bett zu kommen (und dann auch wirklich zu schlafen). Aber wann ist denn bitteschön 14 Uhr? Und spielt die Regel überhaupt eine Rolle, wenn ich meinem eigenen Rhythmus folge? Oder sollte ich (sicherheitshalber) ganz und gar auf Kaffee verzichten? Vielleicht wäre mein eigener Rhythmus ja noch zuverlässiger, wenn ich von meinem Lieblings-Aufputschmittel wegkäme...

Tag 6

Eine Uhr ist ein Zeitverkleinerungsgerät. Sie macht aus großen Zeitspannen immer kleinere Zeitspännchen. Und die wohl bedeutendste Zeiteinheit unserer Zeit ist die Minute.

Das ist nicht generell ein Fehler. Manchmal kommt es auf die Minute an. Und gelegentlich sogar auf die Sekunde.

Aber die meiste Zeit sollte es doch recht egal sein, was die Sekundenanzeige der Uhr zeigt. Und auch die Minuten können sehr oft sehr pauschal betrachtet werden.

Wenn schon getakteter Rhythmus, dann tut mir die halbe Stunde sehr gut. Manchmal auch als "Pomodoro-Technik" mit 25 Minuten Tun und 5 Minuten Nicht-Tun im Wechsel.

Kleinere Zeit-Abmessungen machen mich "faul" - und zwar in dem Sinne, dass es nicht wert ist, das kleine Zeitteilchen mit Sinn auszufüllen. Womit es sich zwangsläufig und wie von selbst mit Unsinn ausfüllt.

Spannend, dass ich kaum Unsinn mache, solange ich keine Uhr-Taktung in meinen Tag lasse...

Tag 7

"Gäbe es die letzte Minute nicht, dann würde nie etwas fertig."

Ich habe das Zitat auf einer Sprüche-Postkarte vor Jahren mal geschenkt bekommen. Mit dem Hinweis, dass die Schenkerin sofort an mich gedacht hatte, als sie die Karte fand.

Das fand ich immer zwiespältig.

Ich verstehe, was sie damals auf den Gedanken gebracht hat. Ich brauche für große Projekte den Zeitpunkt, zu dem ich "abliefern" kann - sonst liefere ich nichts ab.

Aber zugleich fand ich den Spruch immer ziemlich zynisch - unterstellt er (mir) doch, dass mein Lebenswerk davon abhängen soll, für ALLES eine Deadline zu haben.

Wenn wir schon bei Zitat-Postkarten sind, habe ich vor Jahren mal für mich die hier ausgewählt:

"Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen."

Leben passiert einfach und es werden jeden Tag ungezählte Sachen fertig. Oft zu meiner eigenen Überraschung, weil es so mühelos geht.

Pläne hingegen werden nicht jeden Tag abgeschlossen - und tatsächlich verlaufen meine Pläne oftmals im Sande... (Falls sie überhaupt jemals zu Ende gedacht wurden...) Außer natürlich bei geplanten Projekten, die abgeliefert werden müssen und für die es eine Deadline gibt - und diese eine einzige letzte Minute vor dem "Jetzt".

Tag 8

Es gibt "getaktete Zeit" und es gibt "melodische Zeit".

Getaktet ist Zeit, wenn sie von Uhren in immer kleiner werdende Zeit-Einheiten fragmentiert wird: Ein Tag wird in Stunden, die Stunden in Minuten, die Minuten in Sekunden und schließlich in Sekundenbruchteile zerhackt.

Mir fällt das jetzt sehr auf, wenn ich mitten am Tag Termine wahrnehmen muss - wenn ich also mit der Uhr in dem Takt, der für alle Menschen auf der Welt festgelegt wurde, zum festgelegten Moment pünktlich parat sein muss.

Das zerhackt mir nicht nur den Moment. Sondern auch die Stunden vorher. Eigentlich den ganzen Tag...

Denn damit ich wirklich pünktlich sein kann, muss ich mich in die technisch bestimmten Zeiteinheiten einpassen. Oder anderes ausgedrückt: Ohne Uhr keine Pünktlichkeit.

Melodische Zeit ist ganz anders. So, als ob ich gedankenlos eine Melodie vor mich hinsumme, die keinen Anfang und kein Ende hat und keinen Sinn und keinen Zweck. Ich kann alles mögliche machen, während ich summe: Essen kochen, Texte schreiben, Spazierengehen, Bügeln, eindösen und die Melodie im Halbschlaf gedanklich weiterlaufen lassen...

Wenn ich summe, dann denke ich darüber nicht nach.

Und wenn ich melodische Zeit erfahre, dann denke ich DARÃœBER nicht nach.

Außer es gibt eine Uhr in meinem Blickfeld bzw. einen Termin in meinem Kalender. Dann zerhackt mir die technisch getaktete für alle Menschen gültige Zeit meine persönliche nur meiner momentanen Wahrnehmung folgende Zeit.

PS:

Mein Smartphone hat heute folgende Benachrichtigung angezeigt:

Bildschirmzeit im Vergleich zur Vorwoche um 11 Stunden 25 Minuten verringert.

Elfeinhalb Stunden Bildschirmzeit am Smartphone - das ist ein voller Tag!

Echt??? Ich habe in der Woche vor dem Experiment einen vollen Tag MEHR den Handybildschirm angestarrt?

(Ich war ja auch in der ersten Experiment-Woche nicht hundertprozentig smartphone-los unterwegs...)

Schon erschreckend, oder?

Tag 9

Ich hatte über Jahre völlig aus den Augen verloren, dass Zeit summen kann.

Als Kind erinnere ich mich an viele summende Momente...

Keine Ahnung, wie lange sie gedauert haben. Erstens hat man als Kind lange Zeit überhaupt keine Vorstellung von Zeitdauer. Und zweitens hat summende Zeit keine Idee von "wie lang".

Die summende Zeit hat für mich ihre Unschuld verloren, als "wie lang" ein bewusstes Konzept für mich wurde. Anfangs fragte ich bei Autofahrten: "Ist es noch weit?"

Als ich Zeit als Konzept kennengelernt hatte, fragte ich: "Wie lang noch?"

Und als ich die Uhr kannte, war die Frage: "Wann sind wir eeeeeendlich da???"

Die summende Zeit ist mir verloren gegangen, als ich die Langeweile kennengelernt habe.

"Mama, mir ist langweilig." (Oder genauer gesagt: "Mama, die Zeit summt in einem so langsamen Tempo, dass ich dabei noch den Kontakt mit dir nebenher genießen könnte. Wollen wir uns gemeinsam die Zeit mit einer Unterhaltung vertreiben?")

Meine Mama hatte mir aber viele Jahre mit getakteter Zeit voraus. Ihre Antwort war: "Dann kannst du ja dein Zimmer aufräumen." (Und ich habe das nicht als einen Vorschlag für summende Zeit, die nebenbei auch ordnung-schaffende Zeit sein kann, verstanden. Sondern ich habe es als Bestrafung dafür verstanden, dass ich nicht nur Zeit sinnlos verträumt habe, sondern dass mir unterdessen auch noch langweilig dabei geworden ist.)

Langeweile darf man nicht haben. Sonst muss man sein Zimmer aufräumen.

Ist das nicht traurig...?

Tag 10

Die Zeitqualitäten gehen mir nicht aus dem Kopf.

Es gibt Zeit, die im Gleichschritt marschiert, damit niemand aus der Reihe tanzen kann. Und es gibt Zeit, deren einziger Zweck das Tanzen ist. Dann gibt's die zeitlosen Momente, in denen sich unendliches Jetzt grenzenlos ausdehnt wie ein Ozean, der hinter dem Horizont noch endlos weitergeht.

Jede Zeitqualität bringt andere Gedanken und Gefühle mit sich.

Oder ist es genau andersrum - und Gedanken/Gefühle bringen unterschiedliche Zeitqualitäten hervor?

Tag 11

Heute früh hatte ich schon beim Aufwachen unendlich viele wild kreisende Gedanken zu einem Thema im Kopf, von dem ich mich ziemlich provoziert fühle, ohne dass ich etwas ändern kann.

Wäre ich nicht mitten in meinem Eigenzeit-Experiment, dann hätte ich mich mit dem Smartphone auf Social Media davon abgelenkt, bis ich mich über etwas anderes aufgeregt hätte, zu dem ich wenigstens einen bissigen Kommentar posten könnte.

Aber das Handy macht ja Pause. Die sozialen Netzwerke sind geblockt. Ablenken ist nicht.

Und außerdem ist ein "zeitloser Tag" ohne Termine und andere äußere Verpflichtungen. Alle Zeit der Welt, um meiner Laune ausgeliefert zu bleiben.

Ich habe den schwirrenden Kopf weiter schwirren lassen und - völlig untypisch für mich - derweil meine Hände die Küche putzen lassen. (Wenn ich auch nur die kleinste Chance gesehen hätte, mich irgendwie anders zu beschäftigen, hätte ich das Andere gemacht.)

Es hat gut getan, die wirre Zeit für's Putzen zu verwenden. Danach war die Küche ordentlich und das Gedankenchaos zuendegedacht.

Und ich habe wieder etwas über meinen Umgang mit Zeit gelernt: Wenn die Gedanken, die ich mir mache, Gefühle auslösen, die ich nicht mag, dann "mache ich sie weg", indem ich andere Gefühle auslöse, die ich auch nicht mag.

Lasse ich meine Gedanken und Gefühle umeinander weiterkreisen, während ich etwas sinnvolles erledige, dann kriegen die sich ganz von selber wieder ein. Und ich habe das gute Gefühl, etwas geschafft bzw. geschaffen zu haben.

Tag 12

Wenn ich in der Nacht wach im Bett liege, höre ich die Kirchturmuhr nebenan. Ich mag die Glockenschläge und zähle da immer ganz automatisch die Stunden mit. Das ist einfach nur eine Angewohnheit - genauso, wie ich die Zeit zwischen Blitz und Donner bei Gewittern automatisch mitzähle. Und so, wie ich mir aus der Zeit zwischen Blitz und Donner wenig mache und allenfalls denke: "Wow, das war aber kurz." - genauso denke ich mir bei den Glockenschlägen auch nur: "Okay, viele." Oder, wenn's später ist: "Okay, nicht viele." Mit meinem Rhythmus hat das nichts zu tun. Und daher hat's auch keine Bedeutung.

Tag 13

"Open Loops"

Das ist eine Methode, die ich als Kommunikationstrainerin schon lange kenne und auch gelegentlich in Seminaren verwende. Dann eröffne ich ein Thema gezielt so, dass nach den ersten einleitenden Gedanken die Pause kommt. Während die Teilnehmer Kaffee trinken, denken sie unbewusst das Thema weiter. Und wenn wir dann in der Gruppe daran arbeiten, ist plötzlich viel mehr Wissen bzw. Erfahrung zum Thema verfügbar, als von mir anmoderiert wurde.

Dass ich das auch ohne Seminar und ohne Gruppe verwenden könnte, ist mir aber erst vor ein paar Tagen beim Experimentieren aufgefallen.

Dann funktioniert es so: Ich notiere mir ein Thema, das Planung oder Struktur oder Kreativität benötigt. Ich höre aber auf, mich damit zu beschäftigen, noch bevor ich den Plan, die Struktur oder die Ideen notiere - und nehme das Thema mit in eine lange Pause. Später oder am nächsten Tag nehme ich mir das Thema nochmal vor und, juhuu, die unbewusste Beschäftigung damit hat mich schlauer oder kreativer werden lassen.

Schöner Nebeneffekt: Aufschieben hat plötzlich nichts mehr von "Faulheit" - es ist jetzt der wesentliche Teil meiner Produktivitätsstrategie. 🙂

Tag 14

Ich bin heute Mittag an der Rathaus-Uhr vorbeigelaufen und dachte erst: "Sh*t. Jetzt weiß ich unfreiwillig, wie spät es ist. Ich wollte doch ganz in meiner eigenen Zeit spazierengehen."

Aber dann war der nächste Gedanke: "Und wenn schon. Das ist zwar eine Information, aber sie ist nicht relevant. Genauso wie die Fassadenfarbe vom Rathaus oder die Autos, die davor auf dem Parkplatz stehen. Ich kann sie sehen - aber ich muss nichts damit machen, dass ich sie gesehen habe."

Und diesen Gedanken fand ich ungeheuer erleichternd.

Tag 15

Versuchsweise habe ich meine Woche umgestaltet.

Jetzt gibt es Takt-Tage und Teppichtage.

Einen Takt-Tag machen Termine mit anderen Leuten und Deadlines mit mir selbst aus. Es ist ein durch Aufgaben und Verabredungen zerstückelter Tag, in dem die Zeit in Portionen geteilt ist. Zeitportionen, die keine Verabredungen enthalten, eignen sich bestens für Organisatorisches und für E-Mails-Beantworten. Außerdem ist Planung dort gut aufgehoben.

Teppichtage dehnen sich hingegen völlig planlos und ziellos vom Morgen bis Irgendwann aus. Zeit spielt keine Rolle (weswegen Termine da auch nichts verloren haben). Ich folge meinen Interessen und Ideen - so lange, bis eine neue Idee die Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Essen passiert ebenso ungeplant bei Bedarf wie Spazierengehen oder auf unbestimmte (und ungezählte) Zeit zu schreiben. Tagträume und Nickerchen sind erwünscht, um die Kreativität wieder neu zu starten.

Tag 16

Ich finde verblüffend, wie sich meine Idee von Zeit verändert.

Die Tage in 24 gleich große Teile zu zerhacken, die jeweils aus 60 kleineren Teilen bestehen und von denen jedes Kleinteil in nochmal 60 Miniteile zu zerfallen droht... Da fragt man sich doch, wem so ein Quatsch eingefallen ist!

In meinen 16 wachen Stunden gibt es also 960 kleinteilige Minuten oder 57.600 winzige Sekunden. Allein die Zahlen finde ich schon stressig - da muss ich mir gar nicht vorstellen, wie eine Zeiteinheit nach der anderen von der Zeit abgezogen wird, die eh immer zu knapp sein wird.

Das mag ich nicht. Und es ist auch nicht hilfreich.

Auf Minuten kommt es nur an, wenn ich eine Verabredung habe. (Pünktlichsein finde ich immer dann wichtig, wenn meine Unpünktlichkeit jemand anderem die Zeit stehlen könnte.)

Für Tage, an denen ich keine Termine habe und niemand auf mich wartet, erscheint mir eine Unterteilung in "Früh (wach, aber nicht ansprechbar) | Vormittag (eher kreativ) | Nachmittag (eher strukturiert) | Abend (zunehmend schläfrig)" sehr praktikabel - und so viel menschlicher als die künstlich definierte Vertaktung.

Tag 17

An den Teppichtagen ist es ausgesprochen mühelos für mich, Texte zu schreiben und Ideen auszuarbeiten. Das verblüfft mich ein wenig, weil ich mich seit langem (seit Jahren!) mit einer Kreativitätsblockade herumschlage und praktisch nichts mehr geschrieben habe.

(Damit wenigstens irgendetwas von meinen Gedanken mitgeteilt wird, habe ich mitten in der Dauer-Auszeit von 2020 den Mutismus-Podcast ins Leben gerufen. Aber auch da entstand so manche Folge mühsam...)

An einem Teppichtag mit ungezählten Stunden, die völlig unverplant sind, ist das etwas anderes. Denn da ist Schreiben und Ideen-Spinnen die perfekte Beschäftigung.

"Zeit totschlagen" könnte man das abfällig nennen - ich nenne es "Zeit lebendig werden lassen".

Und ich merke, dass die Zeit in dem Moment ihr Eigenleben verliert, indem ich sie in einen Plan zu zwingen versuche.

Also zwinge ich für den Rest des Experiment-Monats die Pläne in getaktete Tage und halte mir die Teppichtage ganz und gar frei.

Tag 18

Ein Tag mit vielen Terminen und kurzen Zeitspannen dazwischen, die mit Notizen, Vorbereitungen, schnellen E-Mails ausgefüllt werden... Ein typischer Takt-Tag also.

Ich habe mir extra eine Liste geschrieben und Takt-Aufgaben gesammelt.

Außerdem habe ich Musik laufen nebenbei - relativ rhythmischen "Jazz for Study and Concentration". (Die Musik würde mich irre machen, wenn ich in einem Zeitteppich schwelgen und meine kreative Zeitlosigkeit genießen wollte. Aber für die kurzen Aufgaben auf meiner Liste beschwingt sie mich.)

Was auch hilft: Ich habe (schon lange) für solche immer wiederkehrenden Takt-Aufgaben sehr konkrete Check-Listen mit allen Einzelschrittchen gespeichert - es gilt also lediglich, einen Haken nach dem anderen zu machen.

Ah, ich höre, was du denkst...

Du denkst dir: "Solche ellenlangen Listen hab ich auch. Die helfen aber nur dem Selbstwertgefühl dabei, immer weiter zu schrumpfen."

Oh ja, das kenn ich.

Aber in einem wesentlichen Detail unterscheidet sich meine Liste von deiner: Ich habe meine erst vor zwei Stunden geschrieben. Da steht nichts drauf, was ich von vor einer Woche noch unerledigt habe oder was ich vor einem Jahr schon anfangen wollte. Da steht nur drauf, was heute Sinn macht (und hoffentlich in den Tag reinpassen wird, ohne dass ich die Nacht hinzunehmen muss).

Wenn ich heute abend aus dem Büro gehe, schmeiße ich meinen Zettel weg, denn morgen ist ein Teppich-Tag. Und wenn der nächste Takt-Tag beginnt, dann nehme ich ein nagelneues weißes Blatt Papier und schreibe auf, was DANN dran ist.

Tag 19

Gestern Abend nach vielen Terminen und Aufgaben, die brav im Takt marschiert sind...

Ich hatte Heißhunger auf Chips... Und ein Glas Rotwein, vielleicht? Ah, nach den Chips noch etwas Süßes - das habe ich mir verdient, oder? Und Fernsehen - oder genauer gesagt, wahlloses rumzappen, während ich nebenbei am Handy wahllos Sachen checke oder google...

Lieber Himmel - wie bin ich zu solch einem Zombie geworden?

Ach ja, richtig... Das waren meine üblichen "Feierabende" vor dem Eigenzeit-Experiment. Nicht an allen Abenden, aber doch an so manchen.

Und das verleitet mich heute - an einem Tag, an dem ich mir meine Eigenzeit gönne - zur Frage:

Was hat die Zeitqualität am Tag mit der Qualität meiner Freizeit am Abend zu tun?

Ich denke, die Frage nehme ich mit in meine Siesta...

Tag 20

Ich stelle fest, dass ich nach einem vollgetakteten Termin-Tag immer eine Art "Übergangstag" habe. Da stehe ich noch unter einem Druck-Gefühl, obwohl ich eigentlich gar keine Termine geplant habe.

Erst am übernächsten Tag nach dem Takt-Tag fühle ich mich mit meiner Eigenzeit wieder sicher und ungestresst.

Das spricht dafür, Termine auch in Zukunft möglichst auf wenige Tage in der Woche zu konzentrieren.

Tag 21

Ich tue mich schwer mit einem Tag, an dem ich esse, wenn ich hungrig bin und döse, wenn ich schläfrig werde und dazwischen tue, was gerade Sinn macht.

Ganz tief in mir drinnen bin ich absolut überzeugt davon, dass ich NICHTS tue, wenn niemand mich dazu zwingt (oder - wesentlich realistischer, weil mich ja eigentlich nie jemand zwingt - ich mich selbst zwinge mit einer gedanklichen Konstruktion, in der irgendwer mich bestraft, falls ich nicht funktioniere).

Die Realität sieht anders aus. Meine Tage ohne Zeitkorsett und ohne Aufgabenliste-zum-Abarbeiten haben in den letzten drei Wochen bemerkenswerte Ideen hervorgebracht, die so ganz nebenbei beim Bad-Putzen oder Spazierengehen oder Büro-Aufräumen aus mir herausgepurzelt sind. Und weil sie so natürlich gekommen sind, waren sie dann auch ganz schnell umgesetzt... Als ob ich mühelos (und deswegen nicht nennenswert) vorankomme.

"Aber das ist nicht fleißig!" denkt es lautstark in mir. "Fleiß" ist, was man tut, obwohl es schwerfällt, weil man es jemandem oder sich selbst schuldigt ist.

Einfach nur tun, was gerade dran ist, ist...

Faul???

Tag 22

Ich schaue manchmal auf die Uhr.

Es passiert mir überwiegend zufällig, weil da eben eine Zeitangabe in mein Blickfeld gerät und und ich unweigerlich hinschaue. Dann nehme ich zur Kenntnis, wie spät es ist. Und vergesse es innerhalb der nächsten 15 Sekunden wieder.

Bewusst, um wirklich herauszufinden, welche Uhrzeit gerade ist, schaue ich an den meisten Tagen so zwei bis dreimal nach. Und weil es dann einen Grund gibt, für den es relevant ist, vergesse ich dann auch nicht, was die Uhr gerade angezeigt hat.

Fast immer geht's bei den Uhrzeit-Checks darum, dass ich einer anderen Person gegenüber eine Verpflichtung eingegangen bin. Ich bin unbedingt pünktlich.

Ab und zu schaue ich auch, wenn ich eigentlich weiß, dass meine Verabredung erst in ein paar Stunden ist - dann will ich abschätzen, wie viel Zeit ich noch habe. (Was bei näherer Überlegung aber ziemlicher Unsinn ist, weil da auf jeden Fall mehr als genug Zeit ist.)

In Anwendung von Zeit
im Stunden- und Minutentakt
durch einen Tag zu gehen
ist, als würde man
in Anwendung der Kreiszahl π
um eine Kurve laufen.

Christine Winter

Tag 23

Uiuiui, hab ich schlecht geschlafen.

Das kann natürlich daran liegen, dass ich gestern wieder einen vollgetakteten Tag hatte mit vielen kleinteiligen Aufgaben und mehreren Terminen dazwischen. Es war zwar nicht stressig, aber schon ganz schön viel. Aber kann das dazu führen, dass ich nachts mehrmals wachgelegen war, einmal sogar aufgestanden bin und schon lange vor dem ersten Morgenlicht endgültig nicht mehr einschlafen konnte?

Ich hatte keinen Kaffee am Nachmittag, kein Glas Wein am Abend und auch nicht zu spät zu schwer gegessen... Alle üblichen Verdächtigen für die Schlaflosigkeit fallen weg.

Natürlich gibt es unzählige andere Gründe. Der einzige, der mir einfällt: Ich habe am Abend ferngesehen - zum ersten mal seit etlichen Tagen. Nichts wildes... Eine Wissenschaftssendung und eine Talk-Show.

Ich hatte schon gemerkt, dass ich um 23:30 Uhr noch nicht müde war. Aber so bald ich im Bett lag, sind die Augen dann doch zugefallen. Nur waren sie beim leisesten Geräusch wieder offen - und ich war wieder hellwach.

Fernsehen als Schlafstörer muss ich weiter im Auge behalten. Und am nächsten Takttag darauf achten, ob ich besser durchschlafe, wenn ich auf den Fernseher verzichte...

Tag 25

Ich habe ein neues Verhältnis zu den Tagen, seit die Minuten und Stunden nicht mehr die entscheidende Rolle spielen.

Jeder Tag ist frisch und neu - wie ein unbeschriebenes Blatt, das sich mit Erfahrungen und Ergebnissen füllt.

Und morgen früh blättere ich wieder um.

Fazit am 26. Tag:

Was bleibt von einem Monat Eigenzeit-Experiment?

Ich werde meine getakteten und ungetakteten Tage beibehalten.

Und weil ich mich mit ungetakteter Zeit wesentlich wohler fühle, werde ich die Uhren aus der Wohnung verbannt lassen. 

(Das Smartphone hat sich leider schon wieder ziemlich wichtig gemacht, obwohl ich das eigentlich gar nicht will. Es ist echt schwer, es konsequent in seiner Schublade zu lassen...)

Und dann bleiben natürlich etliche Erkenntnisse:

  • Zeit ist für fast alles im Leben kein geeignetes Maß.
  • Viel sinnvoller sind Zeitqualitäten (z. B. Gemütlich-Zeit, Kreativ-Zeit, Wegarbeit-Zeit, Nachdenk-Zeit, ...), die nichts abmessen, aber nachhaltiger in Erinnerung bleiben.
  • Minuten und Sekunden sind künstlich - Tageszeiten hingegen sind natürlich. Daher macht es mir keinen Stress, wenn die Tageszeiten vergehen, aber immensen Stress, wenn es sich um Minuten handelt.
  • Nach wie vor finde ich es schwierig, mich "produktiv" zu fühlen, wenn ich ohne Zeitwahrnehmung vor mich hin arbeite. Die Parole "Zeit ist Geld" ist ganz tief eingebrannt ins Hirn - obwohl sie bei näherer Betrachtung völliger Unfug ist.
  • Ach ja, und dann bin ich tatsächlich schlanker geworden. Die Hosen sitzen lockerer, der Gürtel lässt sich bequem drei Zentimeter enger schnallen. Das liegt wohl daran, dass ich weniger oft ans Snacks als "Pausen-Rechtfertigung" gedacht habe als sonst und mir mehr Zeit für Einkaufen, Kochen und Essen gelassen habe. Und ganz sicher liegt es daran, dass Hunger der einzige Grund fürs essen ist, wenn ich die Uhrzeit nicht weiß.