Man muss nicht alles glauben was stimmt

Christine Winter // Mutismus

27. Juni 2016  

Kürzlich hörte ich von einem anerkannten Mutismus-Experten: Selektiver Mutismus ist überwindbar, aber nicht heilbar.“

„Mhm,“ dachte ich mir, „gut, dass ich das bis heute nicht wusste. Sonst hätte ich bestimmt immer noch Mutismus.“

Spezialistenmeinung

Mir ist mal sowas ähnliches passiert, als ich mit Anfang Dreißig eines Morgens nicht mehr aus dem Bett aufstehen konnte. Ich hatte tierische Schmerzen vom unteren Rücken bis zum kleinen Zeh des linken Fußes.
Im Bett umdrehen? – Vergiss es.
Schuhe anziehen??? – No chance.
Die Treppe runter? – Oh mein Gott!

Ich schleppte mich zum Hausarzt. Der ist nur vier Häuser weiter – glücklicherweise im Erdgeschoss. Er meinte: „Vermutlich Bandscheibenvorfall am 5. Lendenwirbel. Das wird schon wieder, keine Sorge.“
Dann schickte er mich zur Abklärung zum Radiologen.

Der schaute lange mit trauriger Miene auf die MRT-Bilder „aus der Röhre“.

Dann meinte er: „Prolaps an L4/5. Das ist irreversibel. L3/4 ist auch bereits kritisch. Der Wirbelkanal ist verstopft. Es gibt einen Eingriff, um den Wirbelkanal wieder zu öffnen. Andernfalls wird ziemlich sicher eine Nervenschädigung zurückbleiben.“

Ich habe ihn sprachlos und entgeistert angesehen. Das, was ich verstanden hatte (oder jedenfalls meinte, verstanden zu haben) machte mir eine Höllenangst. „Irreversibel!“

Ich habe wortlos den Kopf geschüttelt.

„Sie können es natürlich auch konservativ versuchen. Viel Glück.“

Weg war die Koryphäe der Radiologie.

Ich schleppte mich nach Hause. Es war irreversibel. Ich würde eine neue Wohnung brauchen – die drei Etagen von der Tiefgarage ohne Aufzug in die Wohnung würde ich nie wieder schaffen. Einen Treppenlift, eine abgesenkte Duschwanne, am besten keine Türschwellen in der Wohnung – Rollstuhlgerecht und mit so Haltegriffen am Klo… Oh mein Gott.
Ein neues Auto… Und meinen Büroberuf könnte ich auch vergessen… Alle meine Schuhe würde ich wegschmeissen müssen…

„Irreversibel.“ Das heißt, doch: „Da kann man nichts mehr machen.“

Nach ein paar Tagen voller Horrorgedanken habe ich mir ein Buch in der Leihbücherei gesucht. (Die hat einen Aufzug und ist auch sonst barrierefrei.  🙂 )

„Das große Hobbythek-Rückenbuch“ – die Älteren werden sich erinnern an die Fernsehreihe mit Jean Pütz und die meistens etwas außergewöhnlichen „Hobbytipps“ (also „Life-Hacks“ irgendwo zwischen Tine Wittler und Mac Gyver).

Jedenfalls habe ich mir dieses schon arg angestaubte Buch geholt. Da war genau erklärt, was „Prolaps L4/5“ heißt. Da gab es Zeichnungen, in denen ich sehen konnte, was in meiner Wirbelsäule eigentlich „kaputt“ war. Da waren einige ganz simple Hilfen genau beschrieben, mit denen man die ersten Tage bewältigen konnte. Da stand auch, was man „konservativ“, also ohne Operation tun kann.

Und da stand sinngemäß: „Eine Bandscheibe, die einmal geplatzt ist, regeneriert sich nicht wieder. Die gute Nachricht ist: Damit kann man bestens leben. Denn mit einigen gezielten Übungen sorgt die Muskulatur dafür, dass die Wirbelsäule trotz „Platten“ stabil ist.“

Da stand auch sinngemäß: „In weit über 90 Prozent der Fälle löst Körper das, was momentan den Wirbelkanal blockiert, von selbst wieder auf. Das kann bis zu zwei Jahren dauern – aber wenn innerhalb der ersten zwei Wochen eine deutliche Besserung eintritt, braucht es keine Operation“

Das klang für mich ganz anders als „Irreversibel“.

Nach zwei Wochen konnte ich mich nachts (mit der speziellen rückenschonenden Methode aus dem Hobbythek-Buch) umdrehen, konnte mit der Hobbythek-Methode aus dem Bett aufstehen, mehr schlecht als recht Treppen steigen – und stundenweise im Büro arbeiten.

Nach zwei Jahren mit mehr Bewegung als früher und mit einem Stehpult im Büro und mit allerlei kleinen Gymnastikübungen blieb ein klitzekleines Nervenkribbeln am kleinen Zeh zurück.

„Irreversibel? – Pah!“

(Natürlich hatte der Radiologe in seiner Fachsprache recht: Die Bandscheibe ist immer noch platt. Das kann ich fühlen, wenn ich mit den Fingern die Wirbel entlangfahre. Das dadurch verursachte Problem ist für mich trotzdem gelöst – ich habe keine Schmerzen und kann alles tun, was jeder andere auch tut. Und darum geht‘s doch…)

Spezialistenmeinung über Selektiven Mutismus

Meine eigene Erfahrung mit den Sprechblockaden ist: Klar kann ich heute in jeder Lebenslage entscheiden, ob ich spreche. Und manchmal tue ich es dennoch nicht.

Die Erfahrung von Therapeuten ist: Auch nach erfolgreicher Therapie sprechen (ehemalige) Mutisten manchmal nicht.

Die Schlussfolgerung der „Profis“ ist: Man kann es nie ganz heilen.
Die Schlussfolgerung von mir ist: Ich muss nicht alles machen, auch wenn ich alles machen könnte.

Der Experte erklärte mir letzte Woche, wie er zu der Auffassung kommt, dass Selektiver Mutismus nicht heilbar sei. Er meint, dass es nie auszuschließen ist, dass ein Mutist nach der Therapie in einer späteren Lebensphase wieder eine Sprechblockade erleben könnte.

Ja, das stimmt.

Mit dieser Argumentation wäre ein Schnupfen aber auch eine „unheilbare Krankheit“. Denn es ist nie auszuschließen, dass man ihn später im Leben wieder kriegt.
Bei mir passiert das sogar ziemlich regelmäßig – jedes Jahr so ungefähr im Februar.

Fazit

Hätte nicht in meinem Hobbythek-Buch gestanden, dass es nach zwei Jahren keine weitere Besserung mehr geben würde, hätte ich heute möglicherweise auch kein Nervenkribbeln mehr im kleinen Zeh. Es hätte ja durchaus sein können, dass es etwas länger als zwei Jahre gedauert hätte, bis das weg war.

Weil ich aber der „Expertenmeinung“ von Jean Pütz vertrau(t)e, ist genau das passiert, was er prophezeit hat: Nach zwei Jahren hat sich endgültig an meinem Bandscheibenvorfall nichts mehr weiter gebessert.

Hätte mir jemand gesagt, dass Mutismus nicht heilbar ist, dann wäre genau das passiert: Ich hätte immer noch Selektiven Mutismus.

Das ist wie bei der Hummel...

“Die Hummel hat eine Flügelfläche von 0,7 Quadratzentimeter, bei 1,2 Gramm Gewicht. Nach den bekannten Gesetzen der Aerodynamik ist es unmöglich, bei diesen Verhältnissen zu fliegen.
Die Hummel weiß das nicht. Sie fliegt einfach.”

Arthur Lassen

Ich wusste nicht, dass ich Selektiven Mutismus hatte und daher nie „normal“ würde reden können.

Ich hab einfach alles gelernt, was ich dafür brauchte und die Erfahrung gemacht, dass ich es kann. Und mit jeder positiven Erfahrung war ich sicherer, dass ich es konnte.

Der Rest war konsequentes Üben.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine