Ist Extravertiert wirklich besser?

Christine Winter // Introvertiert

9. April 2015  

Eigenartig: Ich kenne keinen Stillen Menschen, der nicht von sich denkt, er sollte extravertiert(er) sein. Weil extravertierte Menschen mehr Erfolg haben. Weil extravertierte Menschen es im Leben leichter haben. Weil man als Extravertierter alles kriegt, was man sich wünscht. Weil extravertiert normal ist.

Und ich frage mich dann immer: Wie kommst du eigentlich darauf?

Was glaubst du?

Jeder von uns sammelt im Laufe seines Lebens eine Menge Erfahrungen, Informationen, Meinungen an – und wir bilden daraus unsere ganz eigenen Überzeugungen über die Welt, die Menschen um uns herum und über uns selbst. Heraus kommen dabei dann so Sätze wie: „Ich bin zu still.“ Oder: „Ich sollte viel mehr aus mir herausgehen.“ Oder: „Wenn ich nicht der Mittelpunkt jeder Party bin, halten mich alle für einen Loser.“

Jeder hat solche Sätze. Jeder!

Deine Überzeugungen - man nennt sie auch "Glaubenssätze" - sind dir so vertraut, dass du sie gar nicht mitbekommst. Und deswegen kommst du auch nicht auf die Idee, sie in Frage zu stellen. Weil ja eh völlig klar ist, dass sie stimmen.

Extravertiert zu sein ist besser!

Wie auch immer dein konkreter Satz zum Thema Extraversion/Introversion lautet – ich unterstelle, dass du der Meinung bist, extravertiert(er) zu sein würde (dir) Vorteile bringen.
Ist ja auch so. Das kann man überall lesen. Und im Fernsehen sieht man es jeden Tag. Im Job sowieso.
Leute, die überall im Mittelpunkt stehen, sich durchs Leben quatschen, abends zum Netzwerken gehen und am nächsten Morgen im Meeting die Kollegen schwindelig reden… – die haben‘s drauf.

Ist das wahr?

Vielleicht hast du ja Lust, dir mal eben die Gedanken zu notieren, die dir jetzt gerade durch den Kopf gehen.

Bleib ruhig einen Moment bei der Frage: Ist das wahr…?
Ist es besser, immer im Mittelpunkt zu stehen? Ist es besser, rund um die Uhr zu netzwerkeln? Ist es besser, viel zu reden?

Was denkst du?

Vielleicht bist du dir nicht mehr hundertprozentig sicher.
Oder du denkst: „Klar ist das wahr. Was soll die Frage???“

Ist es wirklich wahr?

Lass uns trotzdem noch einen Moment dabei bleiben. Ist es wirklich wahr?

Nimm dir ruhig zwei, drei Minuten für die Frage. Und wenn du magst, lass deinen Bauch mit entscheiden.

Ist das, was du über die Vorteile der Extraversion denkst, wirklich wahr? Bist du dir absolut sicher?

Was bewirkt es, wenn du daran glaubst?

Das, was du für wahr hältst, beeinflusst das, was du tust.
Außerdem löst es Emotionen aus.

Wenn du magst, nimm dir nochmal ein paar Minuten, um herauszufinden, was die Überzeugung, dass extravertiert zu sein besser sei, mit dir macht.

Was würde passieren, wenn du es nicht glaubst?

Mal angenommen, die Idee, extravertiert zu sein wäre besser (für dich), ist mit einem Mal nicht mehr da. Du hättest sie womöglich überhaupt nie gehabt… Was würdest du dann jetzt denken?

Du kannst jederzeit entscheiden, dass du zu deiner ursprünglichen Überzeugung zurückkehren willst. Aber vielleicht möchtest du noch ein wenig mit dem Gedanken spielen:

Wer wärst du, wenn du nicht glauben würdest, dass Extraversion besser ist?

Glaubenssätze sind wichtig

Im Alltag treffen wir viele Entscheidungen, ohne groß darüber nachzudenken. Wir leben nach unseren Überzeugungen und „fliegen auf Autopilot“. Dadurch sind wir einigermaßen ausgeruht, wenn wir auf eine neue Situation treffen, die unsere volle geistige Leistung erfordert.

Glaubenssätze sind also eine echte Erleichterung – gerade für uns Introvertierte. Auf nützliche und tief verankerte Denk-Gewohnheiten zurückzugreifen ist daher sehr sinnvoll.

Gewohnheitsmäßiges Denken wirkt allerdings dann einschränkend, wenn dabei etwas herauskommt, was dich stört, einschränkt, behindert oder belastet. Gut möglich, dass das bei deiner Überzeugung über deine Eigenheiten als „Intro“ der Fall ist. Und dann ist es eine gute Idee, deine Gedanken in ein paar ruhigen Minuten zu hinterfragen:

1. Ist es wahr?
2. Ist es wirklich wahr?
3. Was bewirkt diese Überzeugung?
4. Wer wäre ich, wenn ich diese Überzeugung nicht hätte?

Du entscheidest

Wenn du jetzt zu dem Schluss kommst, dass das alles Unsinn ist und dass deine Glaubenssätze über Intro und Extra für dich absolut richtig sind, dann bleib dabei. Konsequenz und Beständigkeit ist eine Stärke von introvertierten Menschen, um die uns mancher Extravertierte beneidet.

Falls du Lust bekommen hast, dich manchmal mit deinen Denk-Gewohnheiten auseinandersetzen, ist es sehr nützlich, eine Überzeugung zu “disputieren”. Am besten geht das schriftlich – damit du dich nicht im Für und Wider verirrst. Deine Notizen sind eine gute Grundlage für eine neue Meinung – oder für’s Beibehalten der bisherigen…

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine

PS: Ich schreibe extrAvertiert und nicht extrOvertiert. Meiner Meinung nach kommt das A dem lateinischen Ursprung des Wortes näher als das O. Falls du das anders siehst: Wie so oft im Leben gibt es mehr als eine richtige Überzeugung. 😉