Im Hier und Jetzt bleiben

Christine Winter // Wahrnehmungssensibel

13. April 2015  

Ich erinnere mich gut: Wenn ich mich als kleines Mädchen in die Ecke gedrängt fühlte, dann bin ich einfach „aus der Situation verschwunden“. Ich war nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern ich war „weg“.

Das ist sehr nützlich, wenn man ein Kind ist, und sich nicht anders zu helfen weiß. Und wenn man es einmal gründlich gelernt hat, dann wird es zu einer automatischen Reaktion, sobald der Stress zu groß wird. Dummerweise geht es so automatisch, dass ich gar keine Gelegenheit habe, darüber nachzudenken – ich habe keine Wahl, obwohl ich längst Möglichkeiten zur Verfügung hätte, anders zu reagieren.

Als Kind war es eine sehr gute Lösung, ins Reich der Phantasie zu gehen, wenn die Realität mich vor unlösbare Schwierigkeiten gestellt hat. Und ich gebe zu, dass es auch heute noch seinen Reiz hat, von Zeit zu Zeit die Wirklichkeit für eine Weile zu vergessen. Aber ich bin erwachsen und möchte selbst entscheiden, wann das „Wegträumen“ angemessen ist und wann eine andere Lösung besser ist.

Regelmäßige Traumzeiten

Der Auslöser für das automatische „Verschwinden“ war und ist Stress. Wenn mir alles zu viel wird, gehe ich… Und dort, wo ich dann bin, ist alles irgendwie gedämpft und weiter weg und weniger deutlich – wie in einem verschwommenen Traum. Das macht den Stress leichter erträglich, aber zugleich macht es mich auch weniger handlungsfähig.

Als Erwachsene möchte ich selbst entscheiden, was ich tue. Ich möchte selbst entscheiden, wie ich mit Stress umgehe. Und deswegen nehme ich mir möglichst die Zeit zum Träumen schon, bevor es von selbst passiert. Ich kuschle mich in meinen Sessel, mache leise Musik an, und folge meiner Phantasie. Und wenn ich dafür zu angespannt bin, dann greife ich zu einer Entspannungs-CD oder einer angeleiteten Phantasiereise.

Es tut mir gut, zu wissen, dass ich selber entscheide, wann ich träume. Und ich habe eine Art Ritual daraus gemacht, mir diese Traumzeit zu nehmen und mich zu entspannen – im Lieblingssessel mit Kuscheldecke und einer bestimmten Geste, die mich ganz schnell in die Entspannung führt.

Im Körper leben

Im Traum fühle ich mich oft wie „körperlos“. Ich kann eine andere Person, ein Tier, ein Gegenstand sein oder ganz ohne Hülle in meinem Traum einfach da sein.

Das wirkliche Leben findet aber im Körper statt – und gerade nach einer Traumphase tut es mir gut, den Körper ganz bewusst zu spüren. Eine Möglichkeit dafür ist, dass ich mich hinstelle und mich abklopfe: Mit der rechten Handfläche klopfe ich auf die linke Schulter, dann den Arm an der Außenseite hinunter bis zum Handrücken und dann zur Handfläche und weiter an der Arminnenseite wieder hinauf bis zur Schulter – mindestens dreimal hintereinander. Dann klopfe ich mit der linken Hand auf die rechte Schulter, den Arm außen hinunter bis zur Handfläche, dann auf der Innenseite nach oben und so weiter. Und mit beiden Händen auf den Bauch, die Oberschenkel, die Unterschenkel hinunter und auf der Rückseite wieder hoch bis zur Lendenwirbelsäule – auch mindestens dreimal.

Danach bin ich wach und ganz im Hier und Jetzt – und ich mag dieses Ritual, um die Traumzeit von der Echt-Zeit zu trennen.

Realitäts-bewusst-sein

Es gibt natürlich auch Momente im Alltag, die eignen sich nicht für eine Traumzeit und auch nicht dafür, den Körper abzuklopfen. Um dann bewusst im Hier und Jetzt und im eigenen Körper zu sein, mache ich eine Art „umgekehrte Hypnose“…

Mir hilft es, wenn ich mich ganz bewusst im Raum und in meinem Körper orientiere.
Du kannst das ganz leicht auch einmal ausprobieren – und das geht so:

Sieh dich im Raum um und benenne laut einen Gegenstand, den du sehen kannst. Und dann einen anderen. Benenne insgesamt fünf Dinge laut, z. B. „Pinnwand“, „Sessel“, „Locher“, „Bücherregal“, „Kugelschreiber“.
Nun benenne ebenfalls laut fünf Dinge, die du hören kannst, z. B. „Musik“, „Ticken der Uhr“, „vorbeifahrendes Auto“, „den Wind“, „die Waschmaschine“.
Und dann benenne noch fünf Dinge, die du spürst, z. B. „den Stuhl unter dem Hintern“, „den Boden unter den Füßen“, „die Finger auf der Tastatur“, „die Anspannung in der Schulter“ und „den Atem in der Nase/Lunge“.
Weiter geht es mit vier Dingen, die du siehst – vier Geräuschen – vier spürbaren Dingen. (Du kannst natürlich auch etwas wiederholen, was du schon einmal gesagt hattest.)
Dann drei sichtbare, hörbare, spürbare Wahrnehmungen.
Dann zweimal sehen, hören, fühlen.
Und schließlich einmal…

Probier‘ es einmal aus. Am besten jetzt gleich.

Ich möchte möglichst zu jeder Zeit selbst entscheiden, wann ich eine Auszeit vom Hier und Jetzt nehme. Noch schaffe ich es nicht immer, die automatische Stress-Reaktion zu verhindern – manchmal passiert mir immer noch, dass ich reagiere, wie ich es als Kind gelernt habe: Mit Schweigen und Wegträumen.
Wenn ich das bemerke, dann gebe ich mir gezielt mehr Zeit zum Träumen, gehe danach bewusst in meinen Körper zurück und orientiere mich in der Realität.