Für Verwirrung beim Lesen von Büchern über Mutismus sorgt ganz oft, dass es in verschiedenen Ländern unterschiedliche Diagnosekriterien gibt. Das heißt, dass zum Beispiel in den USA eine andere „Definition“ dafür gilt, an welchen Symptomen festgemacht wird, dass man Selektiven Mutismus hat.
Für Deutschland (und viele andere Länder) ist zur Zeit der „Diagnosekatalog“ ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation WHO verbindlich.
In den USA wird weitestgehend das DSM-V der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft verwendet.
Die Diagnoserichtlinie hier in Deutschland ordnet Selektiven Mutismus bisher (und meiner Ansicht nach völlig richtig) NICHT den Ängsten/Phobien, sondern den „Störungen sozialer Funktionen bei Kindern“ zu.
In den USA gibt es andere Diagnosekriterien, die Selektiven Mutismus (mittlerweile) den Ängsten zuordnen. Daher gehen amerikanische Autoren von einem sehr engen Bezug zwischen Selektiven Mutismus und Sozialphobie aus.
Das sollte man vielleicht im Hinterkopf haben, wenn man Bücher aus den USA liest.
Weil solche Fragen oft sehr individuelle Antworten erfordern, führe ich in regelmäßigen Abständen kostenlose Webinare - also Live-Veranstaltungen im Internet - durch, bei denen ich Antworten gebe und Themen rund um Selektiven Mutismus vertiefe.
Ganz allgemein gilt: Wenn man verschiedene Bücher liest, dann liest man verschiedene Meinungen von unterschiedlichen Autoren, die unterschiedliche Erfahrungen gemacht oder verschieden angelegte Studien durchgeführt haben.
Das ist oft verwirrend.
Es gibt natürlich Bücher, die sehr weit verbreitet sind. Dann ist auch die Meinung, die der Autor vertritt, sehr verbreitet. Was in Büchern geschrieben steht, ändert aber nichts daran, wie wir Betroffene den Selektiven Mutismus erleben. Und deswegen finde ich wichtig, beim Lesen zu bedenken, dass Autoren beschreiben, was sie beobachtet haben – und manche Beobachtung kann auch ein Irrtum sein. Fachbuchautoren sind auch nur Menschen…
Die beiden – bezogen auf Mutismus derzeit deutlich unterschiedlichen – Diagnosekataloge liegen auf jedem Experten-Schreibtisch. (Und auf meinem natürlich auch. 😉 ) Und deswegen ist das, was im ICD-10 und DSM V über Selektiven Mutismus steht, auch sehr bekannt.
Diese Diagnose-Kataloge sagen allerdings nichts darüber aus, wie man Selektiven Mutismus erlebt oder wie er behandelt wird. Sie stellen nur ein paar Kriterien zusammen, an denen man „das Störungsbild“ erkennt. Das ist – leicht überspitzt gesagt – vor allem wichtig, damit ein Therapeut die richtige Diagnose-Schlüsselnummer auf seine Abrechnung schreiben kann.
Und die Kriterien in den Diagnose-Manualen ändern sich von Zeit zu Zeit gravierend – so wie eben vor einer Weile in den USA (und ab Anfang 2022 in den deutschsprachigen Ländern).
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