Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber ich denke nicht, dass „Erbkrankheit“ der richtige Ausdruck ist. Was ich dagegen gut nachvollziehen kann ist, dass Selektiver Mutismus in Familien immer wieder auftritt, da die Kommunikationsweise über Generationen ähnlich ist.
Jedes Kind lernt Verhalten zuallererst von den eigenen Eltern. Und so kann es gut sein, dass ein Kind ganz früh schon mitbekommt, dass man in schwierigen Situationen lieber erst mal nichts sagt oder den Rückzug antritt. Die Eltern machen es schließlich auch so.
Und auch, wenn die Erwachsenen ihr Leben um diese „Rückzugstendenz“ herum aufgebaut haben, so dass das in ihrem Alltag gar nicht mehr sonderlich störend ist, bekommt das Kind womöglich die ganz subtilen Signale mit: „Mama würde jetzt lieber nichts sagen, sondern aus der Situation rausgehen, aber sie scheint gezwungen zu sein, gegen ihren eigentlichen Impuls zu handeln.“ Auf einer für Mutter und Kind völlig unbewussten Ebene „lernt“ das Kind, dass Rückzug besser als forscher Aktionismus ist.
Jedes Kind bekommt auf diese unbewusste Weise enorm viele Informationen über die Welt, in die es hineingeboren wurde, und das Verhalten, mit dem es sich in dieser Welt bewegen wird.
Die Genetik wird von Fachleuten der Psychiatrie – also von Wissenschaftlern und Therapeuten – trotzdem bei den Ursachen (fast aller psychischen Störungsbilder, nicht nur für Mutismus) als „genetische Prädisposition“ mit angeführt. Das soll bedeuten, dass eine Ängstlichkeit, Schüchternheit, Zurückhaltung oder was auch immer genetisch vorbestimmt sein könnte, die dann im Zusammenspiel mit anderen Faktoren (Umfeld, Erlebnisse, erlerntes Verhalten, …) zum Störungsbild führt.
Das mag wissenschaftlich korrekt sein, hilft aber meiner Ansicht nach niemandem weiter.
Was tatsächlich von einer Generation in die nächste weitergegeben wird (aber nicht genetisch, sondern durch Erlernen und wahrscheinlich auch „mit der Muttermilch aufgesogen“, also durch die enge seelische und körperliche Beziehung des kleinen Kindes zur Bezugsperson) sind bestimmte Verhaltensweisen, Reaktionsmuster, Gedanken, Wertvorstellungen, usw.
Und ich bin der Meinung, dass sich dadurch über die Generationen hinweg manchmal „die Geschichte“ wiederholt.
Weil solche Fragen oft sehr individuelle Antworten erfordern, führe ich in regelmäßigen Abständen kostenlose Webinare - also Live-Veranstaltungen im Internet - durch, bei denen ich Antworten gebe und Themen rund um Selektiven Mutismus vertiefe.
Es ist höchst wahrscheinlich, dass man in den nächsten Jahren detaillierter entdecken wird, wie die Lebensweise und die Erfahrungen der Eltern beeinflussen, welche Gene bei ihrem Kind aktiviert werden. Diese sogenannte Epigenetik ist ein Bereich, der zur Zeit eifrig erforscht wird.
Und manchmal werden von den Medien in diesem Zusammenhang Schlagzeilen kreiert, die eine kleine neue Erkenntnis zu einer ganz großen Wahrheit aufbauschen. So ein einzelnes, vielleicht noch aus dem Zusammenhang gerissenes, Studienergebnis kann die Vielschichtigkeit des menschlichen Körpers und des menschlichen Erlebens nicht erklären. Das Interesse an Medienbeiträgen zu Genetik ist hoch – also eignet sich das Thema gut, um interessante kleine „Stories“ zu basteln. Die Realität ist unendlich viel komplexer und eignet sich nicht für leicht lesbare unterhaltsame Kurzgeschichten…
So spannend es aus wissenschaftlicher Sicht sein kann, ein Gen für eine psychische Problemstellung zu finden, so wenig hilft es jemandem weiter, der Sprechblockaden erlebt.
Auf dem Weg, das eigene Leben zu gestalten, geht es darum, aus dem was man als Anlagen, Persönlichkeitszügen, unbewussten Lebensregeln, Talenten, Stärken, Fähigkeiten zur Verfügung hat, das Beste zu machen. Und dann geht es immer auch darum, dazuzulernen, wie das eigene Leben besser gelingt. Das ist die Aufgabe, die jeder für sein Leben mitbekommen hat – ganz unabhängig von Sprechblockaden und einem zurückhaltendem Wesenszug.
Es gibt sicher nicht den einen Faktor, der wie ein Lichtschalter den Selektiven Mutismus anknipst. Und ich gehe aus eigener Erfahrung davon aus, dass das Umfeld und die Umstände, in die ich hineingeboren wurde, wesentlich bestimmender für die Entwicklung meiner Sprechblockaden waren als meine – wahrscheinlich zumindest teilweise angeborene – zurückhaltende Persönlichkeit.
Die gute Nachricht ist: Ich konnte den Selektiven Mutismus ablegen. Und für mich ist das Beweis genug, dass Mutismus vor allem durch äußere Faktoren entsteht und keine reine Erbkrankheit sein kann.
Aber ich bin wie gesagt keine Wissenschaftlerin.