Introvertiert sein

Introvertiert zu sein bedeutet genau genommen nur: Ich brauche Energie, wenn Leute um mich herum sind.

Falls du jetzt denkst: Klar brauche ich Energie, wenn unter Leuten bin. Das ist doch ganz normal!
…dann können wir davon ausgehen, dass du introvertiert bist.

Das ist nicht schlimm – es ist keine Krankheit, keine Störung oder so.
Es ist eine Sammlung von Bedürfnissen, die so sehr zu dir gehören, dass du gar nicht erst versuchen solltest, sie nicht zu stillen.

Introversion ist ein wesentlicher Bestandteil deines Charakters – ein wesentlicher Teil dessen, wer du bist.

Jetzt fragst du dich natürlich, wie es wäre, extravertiert zu sein.
(Ja, ich schreibe extrA – so hätten es wohl auch die alten Lateiner geschrieben. Und für mich drückt das A bei extrA-vertiert etwas aus – und auch das O beim IntrO-vertierten… Aber das nur am Rande.)

Extravertiert zu sein hieße, dass du dich bei einem Bad in der Menge fühlst wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Freunde treffen ist ganz nett. Eine kleine private Party – okay. Ein Festzelt mit Showband und 1000 Leuten ist aber noch viel besser. Und wirklich genial ist das Open-Air-Festival mit 10.000 Besuchern, Übernachtung im Hundehüttenzelt mit drei Kumpels – und Tag und Nacht mittendrin statt nur dabei sein.

Als Extravertierter wärst du noch Tage danach wie elektrisiert von so viel toller Energie.

Als Introvertierter brauchst du danach Erholung. Zeit für dich. Ein gutes Buch. Oder Kopfhörer mit schöner Musik. Oder einen langen einsamen Spaziergang. Oder einfach nur dasitzen und nichts tun – mit niemandem.

Das ist der Unterschied.

Natürlich kannst du als Introvertierter auf Partys gehen und Leute treffen. Warum auch nicht – „intro“ bedeutet nicht, dass du ein eigenbrötlerischer Außenseiter sein musst.
Es gibt dabei zwei Dinge zu beachten:

  1. Du solltest erholt sein, bevor du dich auf den Weg machst. Und
  2. Du solltest ausreichend viel Zeit zur Erholung einplanen, wenn du zurückkommst. Wenn es geht, plane sogar ein paar Rückzugsmomente währenddessen ein.

Dann ist sogar ein Festival genial – vielleicht nicht unbedingt drei Tage lang, sondern eher nur einen Abend.
Oder nur für den Show-Act ins Festzelt gehen.
Und kleine Partys im Freundeskreis kannst du dir eh so einrichten, wie sie für dich passen.

Wie viele Introvertierte gibt es eigentlich?

Eine hervorragende Frage. Ich würde sagen: Es kommt darauf an, wo du die Grenze zwischen Introversion und Extraversion ziehst. Wenn du in der Mitte teilst, dann hast du das Verhältnis 50:50. Also rein statistisch betrachtet.

Gefühlt (also meinem eigenen Gefühl nach) sagt so ungefähr jeder vierte oder fünfte Mensch von sich: „Wenn ich unter Leuten war, brauche ich hinterher Zeit für mich. Für mich ALLEIN.“ Das macht dann ungefähr 20 bis 25 Prozent eindeutig Introvertierte.

Das „Fisch-im-Wasser“-Gefühl beim Bad in der Menge dürfte (meinem Gefühl nach) auch auf ungefähr 20 bis 25 Prozent der Menschen zutreffen.

„Aber, Moment mal“, denkst du jetzt. „Da kommen wir ja insgesamt nur auf 40 bis 50 Prozent…???“

Stimmt. Ich glaube, dass die Mehrzahl der Menschen beides kann. Die meisten Leute können einen schönen Abend in netter Gesellschaft genauso genießen wie einen schönen Abend mit einem Buch auf dem Sofa.

Damit auch diese Gruppe einen Namen hat, nennt man sie Ambivertierte.

Mein Gefühl ist, dass man mit steigendem Alter ganz von selbst „ambivertierter“ wird. Aber vielleicht wird einem auch mit den Jahren einfach immer klarer, wie man gut für seine Bedürfnisse sorgt.

Was sind denn die Stärken der Introvertierten?

Ich zitiere mal die zehn Stärken, die Sylvia Löhken in ihrem Buch „Leise Menschen – starke Wirkung“ nennt und dort auch ausführlich beschreibt:

  • Vorsicht
    behutsam vorgehen, Risiko und Abenteuer meiden, aufmerksam beobachten, Respekt zeigen, vor dem Reden denken, unaufdringlich sein, Informationen über sich selbst dosieren
  • Substanz
    aus der Tiefe der eigenen Erfahrung schöpfen, Wesentliches betonen, Inhalte mit Bedeutung, Tiefe und Qualität vermitteln, inhaltsreiche Gespräche führen
  • Konzentration
    fokussieren können, Energie gezielt auf eine innere oder äußere Aktivität richten, intensiv und beständig bei einer Sache bleiben, aufmerksam sein
  • Zuhören
    aus den Äußerungen des Gegenübers Informationen, Positionen und Bedürfnisse herausfiltern, einen Dialog schaffen
  • Ruhe
    innere Ruhe als Basis für Konzentration, Entspanntheit, Klarheit und Substanz pflegen
  • Analytisches Denken
    planen und strukturieren, komplexe Zusammenhänge unterteilen und daraus systematisch Informationen, Positionen, Lösungen und Maßnahmen herleiten
  • Unabhängigkeit
    allein sein können, selbständig sein, innerlich losgelöst von der Meinung anderer nach eigenen Prinzipien leben, von sich selbst absehen können
  • Beharrlichkeit
    geduldig und mit langem Atem einer Sache nachgehen, um ein Ziel zu erreichen
  • Schreiben
    lieber und leichter schriftlich als mündlich kommunizieren
  • Einfühlungsvermögen
    sich in die Lage der Kommunikationspartner versetzen können, mit weniger Konflikten leben, Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen in den Vordergrund stellen, kompromissbereit sein, diplomatisch vermitteln

Gut möglich, dass du nicht alles auf dieser kleinen Liste bei dir selbst als Stärke siehst. Oder dass es für dich Selbstverständlichkeiten sind.

So ist das nun mal mit den Stillen Stärken… 🙂

Was ich eigentlich sagen will, ist:
Es ist egal, ob du dich intro- oder extra- oder ambivertiert fühlst. Mach einfach das, was für dich gut ist.

Wenn du anders wärst, wärst du nicht du selbst. Das fände ich schade.
Sei du selbst, lass die anderen anders sein.