Ein Märchen. Über das Gewohnte und das Fremde.

Christine Winter // Coaching-Geschichten

6. Juni 2016  

Es war einmal ein Mädchen, das lebte im Dorf seiner Eltern mit seinen Geschwistern, seinen Großeltern, Onkeln, Tanten, Vettern und Basen.

Nur wenige Häuser versammelten sich um den Dorfplatz. Und alle Dorfbewohner kannten sich seit jeher – als Dorfgemeinschaft und als Familie.

Das Dorf lag inmitten des großen Sumpfes. Viele große Bäume sorgten dafür, dass es dort nie so richtig hell wurde. Die Nebelfetzen, die nur knapp über dem Boden hingen, taten ein Übriges, um das Tageslicht abzudunkeln.

Noch niemals jemals hatte irgendjemand aus dem Dorf den Sumpf verlassen. Und niemals jemals war irgendjemand von außerhalb des Sumpfes in das Dorf gezogen.

So verging ein Tag nach dem anderen inmitten des großen Sumpfes. Und jeder Tag glich dem vorherigen. Und jeder neue Tag brachte nichts Neues… 

Das kleine Mädchen stellte seiner Mutter viele Fragen.

„Was kommt, wenn unser Sumpf zuende ist?“ – „Nichts.“

„Und wie ist dieses Nichts hinter dem Sumpf?“ – „Es ist schrecklich, finster und voller Bedrohungen!“

„Gibt es denn andere Familien irgendwo anders?“ – „Wo sollte das denn sein? Es gibt nur unseren Sumpf.“

„Warum ist es in unserem Sumpf immer kalt und immer dunkel?“ – „Was meinst du damit? Das ist doch ganz normal!“

„Wenn ich aus dem Sumpf rausginge… Was würde dann wohl passieren?“ – „Wer jemals aus dem Sumpf herausginge, der würde niemals wiederkommen. Deswegen bleiben alle hier. Und nun lass die Fragerei – wir sind wo wir sind wie wir sind. Basta.“ 

Das kleine Mädchen hatte immer noch viele Fragen. Die Antwort, das hatte sie längst verstanden, war immer die gleiche: Wir bleiben wo wir sind und leben wie wir leben. Es ist, wie es ist, weil es schon immer so war. Wo der Sumpf endet, da ist Nichts. Und jeder Tag bringt nichts Neues.

So hielt das Mädchen den Mund, um niemanden ärgerlich zu machen.

Sie versuchte, zu vergessen, dass sie niemals jemals einen Blick hinter die Grenzen des Sumpfes werfen würde. Sie versuchte wirklich, so zu leben, wie es ihre Eltern, Großeltern, Onkel, Tanten, Vettern und Basen taten – einen Tag, der nichts Neues brachte, nach dem anderen. 

Und dann kam sie, während sie gedankenlos durch die Nebelfetzen stromerte, zufällig an die Stelle, an der der Sumpf endete.

Erst erschrak sie. Vielleicht würde sie einfach sterben, wenn sie sich auch nur einen Schritt hinaus wagte…

Während eine Todesangst sie überwältigte, musste sie sich wohl einen Schritt vorwärts bewegt haben. Denn plötzlich traf sie der allererste Sonnenstrahl ihres Lebens. Und sie dachte: So ist es also, wenn das Leben vorbei ist.

Und sie rannte in ihr Dorf zurück, so schnell sie konnte.

Sie lebte noch. Und niemals jemals durfte jemand erfahren, was sie erlebt hatte. Es war verboten. Es war lebensgefährlich. Es war völlig unaussprechlich, was sie getan hatte.

Niemand, der aus dem Sumpf ging, würde jemals wiederkommen.
Und deswegen durfte niemand wissen, dass sie von diesem hellen Licht getroffen worden war und trotzdem noch da war. 

Wochenlang quälte sich das Mädchen damit, nicht wieder an den Rand des Sumpfes gehen zu wollen.

Dann tat sie es doch.

Sie ging wieder an die Stelle, an der der grelle Sonnenstrahl sie getroffen hatte. Und diesmal sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben die Wolken – luftige weiße Wolken, zwischen denen die Sonne helle Flecken auf die weite Landschaft warf. Sie sah zum ersten mal in ihrem Leben, dass es Licht, Dunkel, Sonnenseiten und Schattenseiten gibt.

Und so setzte sie sich in den Schatten eines großen Baumes und schaute dem Licht zu. Sie saß dort, bis die Dämmerung einsetzte. 

Als sie in ihr Dorf zurückkehrte, sah ihre Mutter sie streng an: „Wo bist du gewesen? Du hast deine Arbeit nicht getan. Du weißt genau, dass du jeden Tag zu tun hast, was du jeden Tag zu tun hast.“

Das Mädchen konnte nicht sagen, was es erlebt hatte. Vor allem konnte es nicht erklären, dass das Licht und der Schatten und der wundervolle Wechsel zwischen dem einen und dem anderen sein Herz berührt hatte. Und dass es sich bei diesem Anblick so lebendig gefühlt hatte – richtig lebendig, obwohl man doch dort nicht leben durfte, wo das Mädchen gewesen war… 

„Na, hast du nichts zu sagen?“, setzte die Mutter nochmal nach.

„Nein. Ich muss wohl eingeschlafen sein…“

„Zum Schlafen ist die Nacht da. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder schliefe, wann er wollte! Hier ist kein Platz für eine Träumerin. Tu deine Pflichten, wie es alle tun. Basta.“ 

Wochenlang hielt sich das Mädchen an die Worte der Mutter.

Sie versuchte, nicht zu träumen – doch manchmal schlich sich ganz unwillkürlich das Bild von der Landschaft mit Licht und Schatten in ihre Gedanken. Und sie fragte sich, wie es wohl wäre, diese Landschaft kennenzulernen… 

Sie fasste einen Entschluss. Einmal noch würde sie hinausgehen und sich umsehen. Nur noch einmal.

Sie würde nachher wieder lügen müssen. Das tat ihr schon vorher leid. Und doch ging es nicht anders. Denn niemals könnte sie ihrer Mutter erzählen, was sie getan hatte. Ganz sicher würde sie ihrer Mutter nicht begreiflich machen können, wie sie sich fühlte, wenn sie dort war, wo alle „Nichts“ vermuteten. Und niemals würde die Mutter verstehen können, warum sie es tat.
Sie würde diesmal einfach besser lügen müssen als beim letzten Mal. Niemals würde sie wollen, dass ihre Mutter ihretwegen ärgerlich oder traurig oder irritiert sein muss… 

Und so ging sie über den Rand des Sumpfes hinaus. Sie freute sich über die Sonnenstrahlen. Sie hörte die Vögel singen. Sie sah die Schmetterlinge tanzen. Sie spürte den Wind und die Wärme auf der Haut. Es war so schön dort jenseits des Sumpfes, geradezu traumhaft.

Das Mädchen hatte die Zeit ganz und gar vergessen.
Immer weiter ging sie hinaus. Durch die Wiesen, durch die Felder, durch ein Waldstück, in dem das Sonnenlicht lustig tanzende Flecken aus Licht auf den dunklen Boden warf…

Dann öffnete sich eine helle Lichtung vor ihr. Ein paar Hütten, ein paar Tiere, ein paar Menschen waren dort zu sehen. Sie blieb am Rande stehen und beobachtete, was sich abspielte. Und dabei dachte sie: So ganz ähnlich ist diese Lichtung dem Sumpf meiner Eltern – und so ganz anders ist das Leben dort.

Alle Menschen, die sie sah, schienen Freude zu haben. Und es kam ihr vor, als würde zwischen allen ein unsichtbares Band existieren. Eine Verbundenheit aus Freude… Sie konnte es spüren, während sie den Menschen zusah.

Kleine Kinder spielten mit Steinen und Hölzern mitten in der Wiese. Die größeren Mädchen bastelten Haarschmuck aus Blumen und tanzten dann zwischen den Schmetterlingen über den Dorfplatz. An einem Hauseingang saß eine Großmutter und kitzelte ein Baby, bis es vor Begeisterung jauchzte. Und alle vertrauten darauf, dass es nichts wichtigeres zu tun gab, als sich zu freuen und sich mit allen verbunden zu fühlen. 

Es tat dem Mädchen aus dem Sumpf plötzlich ganz arg weh, hinzuschauen.

Jetzt wusste sie, warum es so gefährlich gewesen war, hinauszugehen. Sie hatte nicht geahnt, wie sehr es im Herzen weh tat, draußen gewesen zu sein. 

Sie schlich sich in der tiefsten Abenddämmerung zurück ins Haus ihrer Eltern und versteckte sich. Unendlich traurig fühlte sie sich – und nun würde sie auch noch ihre Mutter anlügen müssen, wenn sie hereinkam und fragte…

Das war so ein Ausflug ins Licht nun wirklich nicht wert. Nie wieder würde sie hinausgehen. 

Doch der Schmerz im Herzen ging nicht mehr weg. Und die Bilder, die sie auf der hellen Waldlichtung gesehen hatte, gingen auch nicht mehr weg. Und das helle Lachen der Kinder, das Singen der Vögel, das Geräusch von Wind in den Bäumen… 

Wochen später nahm sie allen Mut zusammen und sagte ihrer Mutter, dass sie hinausgehen wollte, um die Welt zu erkunden.

Und die Mutter antwortete, dass „die Welt“ ein ganz altes, unsinniges Märchen war und dass niemand sie je gesehen hatte und dass niemand es je versucht hatte. Und dass das alles Hirngespinste waren, die einen allenfalls von der Arbeit abhalten würden.

„Aber es gibt eine Welt am Ende des Sumpfes.“

„Papperlapapp. Mach deine Arbeit. Am Ende des Sumpfes ist Nichts.“

Das Mädchen hätte gern gesagt, dass es längst dort gewesen war. Dass es gesehen, gehört und gespürt hatte, wie es dort war. Aber die Lüge, die sie aufgebaut hatte, damit sich die Mutter keine Sorgen machen sollte, stand im Weg. Wie sollte sie jetzt erklären, dass das Undenkbare wahr war und das, was ihr alle geglaubt hatten, gelogen…?

So sagte sie nichts mehr. 

Sie ging alle paar Wochen hinaus aus dem Sumpf. Monatelang, immer wieder.
Die Lüge war zur Gewohnheit geworden. Die Mutter fragte nicht mehr, wo sie gewesen war, wenn sie erst in der Abenddämmerung ins Haus schlüpfte. Und sie verbarg sich in ihrem Zimmer, weil ihr Herz immer so voll und schwer war, wenn sie von der Lichtung in den Sumpf zurückkehrte. 

Eines Tages saß sie wieder am Rand der Lichtung. Niemand hatte bisher jemals Notiz von ihr genommen. Sie war sich inzwischen beinahe sicher, dass sie für die Menschen unsichtbar war. Und darüber war sie sehr froh – denn sie hätte nicht erklären können, warum sie sich hinter den Bäumen versteckte, um dem Leben auf der Lichtung zuzuschauen. Und noch eine Lüge wollte sie nicht in die Welt setzen. 

Ein Hund lief auf den Waldrand zu. Das war schon öfter passiert – kein Grund zur Beunrunigung. Doch diesmal lief ein Junge hinter dem Hund her und tobte mit ihm herum. Die anderen Kinder kamen nach und nach auch dazu und alle balgten miteinander und mit dem Hund, bis sie vor Lachen nicht mehr konnten. 

Als sie ganz erschöpft im Gras in der Sonne lagen, baten die Kinder den Ältesten: „Erzähl uns doch wieder die Geschichte.“

Und so fing der Junge an zu erzählen:

„Es war einmal vor langer Zeit, da machte sich ein Bursche von unserer Lichtung auf den Weg nach draußen. Er lief durch die Felder, Wälder und Wiesen. Und schließlich kam er an den Rand eines nebeligen düsteren Sumpfes.

Er kannte die alten Legenden vom Versteckten Volk, das in Sümpfen lebte. Doch niemand, den er kannte, hatte jemals solche versteckte Wesen gesehen.

Und weil er wagemutig – vielleicht auch ein bisschen tollkühn – war, ging er in den Sumpf hinein. Tatsächlich fand er im nebeligen Grau eine Familie von Wesen, die wie Menschen aussahen.

Er beobachtete das Leben im Sumpf. Vieles davon war ihm ganz und gar vertraut, weil es auf der Lichtung seiner Eltern ganz genauso gewesen war.

Doch fehlte etwas.
Was war es nur? Er konnte es nicht sagen. Er konnte nur spüren, dass sein Herz ganz leer und taub wurde, je länger er da saß und beobachtete.

Vielleicht war es ja der Nebel, der seine Gefühle so trist und dunkel machte…

Und so kehrte er heim in die Lichtung. Er erzählte nichts über seine Beobachtungen.

Aber die Erinnerung an das dunkle Gefühl in seinem Herzen ließ ihn nicht los. Und seine Abenteuerlust lockte ihn immer wieder in den Sumpf des Verborgenen Volkes.

Eines Tages schließlich erkannte er, was sein Herz so schwer machte – und von diesem Tag an ging er niemals wieder in den Sumpf. Denn so sehr er das Abenteuer liebte, so wenig wollte er so schweren Herzens leben.

Und deswegen gehen wir seit Generationen nicht mehr zum Sumpf des Verborgenen Volkes. Und deswegen freuen wir uns hier auf unserer Lichtung des Lebens – keinem von uns soll jemals das Herz schwer sein.

So leben wir hier glücklich und zufrieden bis ans Ende aller Tage.“ 

Dem Mädchen, das versteckt am Waldrand saß, rannen Tränen über die Wangen. Sie lebte beim Verborgenen Volk. Und der Junge hatte erzählt, was sie auch fühlte: Dort fehlte etwas ganz wichtiges. Dort fehlte etwas, das es hier auf der Lichtung ganz selbstverständlich gab.

Sie hatte keine Worte dafür. Doch sie konnte spüren, wie ihr Herz leicht war, wenn sie die fremde Lichtung besuchte – und wie ihr Herz schwer wurde, wenn sie in den vertrauten Sumpf zurückkehrte. 

Sollte sie in der fremden Welt der fremden Menschen bleiben? Dann könnte sie nie wieder zu ihrer Familie, dem Verborgenen Volk, zurückkehren. In beiden Welten zu leben, das ging einfach nicht – es wäre für die Leute aus dem Sumpf unvorstellbar.

Sollte sie für immer in der vertrauten Welt des Verborgenen Volkes bleiben? Dann würde sie nie wieder Licht und Schatten sehen und sie würde nie wieder diese Leichtigkeit im Herzen spüren. Nie wieder Vögel singen hören, nie wieder Schmetterlinge tanzen sehen, nie wieder Kindern beim Herumtollen zuschauen… Das konnte sie sich nicht mehr vorstellen.

Gab es ein „dazwischen“? Nicht im Sumpf des Verborgenen Volkes und nicht auf der Lichtung der fröhlichen Menschen…? 

Das ist nicht leicht zu entscheiden. Und doch wurde dem Mädchen an diesem Tag, an dem es verborgen am Rand der Lichtung saß, klar, dass es genau diese Entscheidung würde treffen müssen, um erwachsen zu werden.
Sie würde sich für IHRE Welt entscheiden müssen. Sie würde damit leben müssen, dass ihre Entscheidung Konsequenzen hätte. Und sie würde sich von da an immer daran erinnern, dass sie sich ihren Platz für ihr Leben ausgesucht hat.

Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie bis heute da, wo sie es für richtig hält. 


Es ist eine wirklich eigenwillige Geschichte, die da heute früh unter der Dusche „zu mir gekommen“ ist. Ich habe sie mir nicht ausgedacht. Sie war einfach da und wollte erzählt werden.

Es kommt mir vor, als ob ich sie noch nicht fertigerzählt hätte. Und trotzdem stelle ich sie hier in den Blog – in der Hoffnung, dass sie für irgendjemanden einen Sinn ergibt.

Denn es ist oft so bei dieser Art von Geschichten: Ich selbst verstehe erst viel viel später, warum ich sie aufschreiben musste…

Wenn sie dich irritiert oder sogar genervt hat, dann täte mir das leid – dann ist sie wohl nicht für dich.

Gut möglich, dass jemand anderes sie zur gleichen Zeit gelesen hat und findet, dass das genau die Geschichte ist, die er jetzt brauchte.

Nimm dir mit, was für dich passt – den Rest lass für die anderen da.

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine