„Wenn es nicht perfekt wird, fange ich gar nicht erst damit an.“
Spannend, oder?
Da ist diese Idee von irgendetwas, das es noch nicht gibt. Es ist kreativ, es ist ungewöhnlich, es ist noch nie zuvor so in der Welt gewesen, wie es jetzt gerade in nagelneuen Gedanken in dir drin heranreift.
Und schon in die Idee eingebaut ist die ganz klare Erwartung, dass das Ergebnis nur perfekt sein darf.
Weniger als „perfekt“ kommt in diesem Gedankengang überhaupt garnicht vor. Weniger als absolute Vollkommenheit wird erst gar nicht gedacht. Punkt. Basta.
Wenn du dich fragst, was ungesunder Perfektionismus ist... Genau das!
Kein Perfektionismus bedeutet: Du weißt vorher nicht, was nachher rauskommt
Da ist also diese Idee. Sie ist nagelneu. Du hast sie so noch nie gedacht. Vielleicht existiert überhaupt noch nichts vergleichbares in der Welt - aber jedenfalls hast du noch nie etwas vergleichbares in die Welt gebracht.
Und du hast nicht die leiseste Ahnung, was sich daraus entwickeln wird, wenn du ein erstes kleines Irgendwas aus deiner großen Idee in die Realität bringst.
In einem Punkt aber kannst du dir schon von Anfang an ganz sicher sein: Es wird anders sein als gedacht.
Es wird dich überraschen. Es wird dich provozieren. Es wird dir vielleicht ein wenig peinlich sein. Oder es wird dich enttäuschen.
Es wird nicht so, wie du denkst. (Denn Denken ist ein völlig anderer Vorgang als Machen. Das vergisst man leicht, wenn man mitten im Denken ist.)
Beim Machen entsteht eine neue Realität. Und die darf überraschen. Und provozieren. Und Gefühle auslösen.
Bloßes drüber nachdenken macht keine neue Realität, keine Überraschungen und keine realen Gefühle. Im Deutschen gibt es das schöne Wort „Hirngespinste“ für das, was entsteht, wenn du nichts machst und viel denkst.
Kein Perfektionismus bedeutet, dass du etwas machst, ohne zu wissen, was daraus wird
Du erschaffst nagelneue Realität. Aus Gedanken, die dir vorgaukeln, dass du schon wissen könntest, was das wird.
Seien wir ehrlich. Du hast im besten Falle eine Vorstellung von den allerersten Schritten. Was du als erstes tun solltest, ist klar. Was du danach machen könntest, erscheint schon etwas diffuser in deiner Vorstellung. Und dann... Je weiter du vorausschauen willst, desto weniger kannst du erkennen.
Du beginnst eine Entdeckungsreise, die mit Schritt Eins beginnt.
Aus dem ersten Schritt des Entdeckens gewinnst du neue Erkenntnisse, die einen sinnvollen zweiten Schritt nahelegen. Und schon hast du eine neue Richtung eingeschlagen, um aufs Neue neue Erkenntnisse zu entdecken.
Spätestens bei Schritt Drei wirst du aus den gewonnenen Erkenntnissen andere Realitäten zusammensetzen als du vorher gedacht hättest - denn Machen ist anders als Denken.
Spätestens bei Schritt Drei wirst du also auch mit den Überraschungen, den Planänderungen und den Gefühlen zu tun haben. Und mit der hilflosen Erkenntnis, dass du deine Idee von „perfekt“ nicht aufrecht erhalten kannst, wenn das, was entsteht real wird.
Ist nicht schlimm.
Es ist normal.
Es ist, wenn du so willst, perfekt.
Denn jetzt entsteht etwas Neues. Etwas noch nie gemachtes. Vielleicht sogar etwas, das es so noch überhaupt nie irgenwo gegeben hat.
Du bist nämlich jetzt kreativ.
Deine Idee wird Realität, während du herausfindest, wie das geht.
Du erschaffst etwas. Du schöpfst aus einer verborgenen Quelle. Du siehst erst beim Entstehen, was da gerade entsteht.
Spannend, oder?
„Wenn es nicht perfekt wird, fange ich gar nicht erst damit an.“
Wenn du nicht damit anfängst, wirst du nichts Neues entdecken.
Schlimmer noch: Wenn du nicht anfängst, wird auch das, was du denkst, nichts weiter als ein großes, verworrenes, eingestaubtes Hirngespinst.
Während du denkst, dass du etwas perfekt machen können würdest, entsteht in der Realität ...nix.
Gedacht ist nicht gemacht.
Das Gehirn trickst dich aus, indem es dir die gleiche Zufriedenheit suggeriert, wenn du dich intensiv in einem Gedanken verlierst, als wenn du das Gedachte real werden lassen würdest.
Das ist vielleicht der Grund, warum uns Abenteuer in einem Film so in ihren Bann ziehen können, als ob wir mitten drin wären. Oder der Trick, warum ein Computerspiel uns stolz auf unsere rein virtuellen Erfolge macht. Oder warum es Freude macht, online einzukaufen, obwohl man das Gekaufte erst Tage später in die Hand bekommt.
Wir haben dann zwar in der Realität nichts gemacht oder erreicht, aber die Gedanken waren intensiv damit beschäftigt, sich in eine gedachte Situation hineinzuversetzen. Und das fühlt sich nicht selten besser an als in echt.
Es ist schön, dass wir Menschen das können. Es geht nichts über angenehme Tagträume und fantastische Phantasien. Und gegen einen guten Film oder ein spannendes Computerspiel gibt es auch nichts einzuwenden.
Einen Haken hat das aber: Es entsteht unterdessen viel Hirngespinst. Real ist davon nichts.
Machen macht Angst
Einer Idee zu folgen und sich auf unbekanntes Terrain damit zu begeben, fühlt sich unsicher an.
Dabei spielt es keine große Rolle, ob echte Gefahr droht. Es ist sogar egal, ob das Machen ganz und gar im stillen Kämmerlein stattfindet und im Zweifel niemand jemals davon erfahren wird.
Ein paar Beispiele von mir für Hirngespinnereien, die mich am Machen hindern:
- Ich kann mich nicht überwinden, Klavier zu üben, weil ich weiß, wie schlecht ich spiele - wenn das jemals jemand hören würde, wäre es mir peinlich. (Ich übe übrigens mit Kopfhörern an einem Digitalpiano. Niemand kann mich dabei hören - dennoch fühlt es sich schrecklich peinlich an, es mir nur vorzustellen...)
- Ich kann mich nicht fotografieren lassen. Alle Bilder von mir sehen immer schrecklich aus und es wird mir dann unangenehm sein, wenn ich die Fotos (die ja gar nicht entstehen, weil ich mich nicht fotografieren lasse) später ansehen muss.
- Ich kann mich nicht hinsetzen und zum puren Vergnügen schlechte Zeichnungen zeichnen. Wenn ich schon zeichne, dann muss das eine gute Zeichnung werden. (Was würden denn die Leute denken, wenn sie wüssten, dass ich einfach so Buntstifte über ein Blatt Papier sausen lasse - ohne künstlerische Qualifikation oder Ambition?)
- Ich kann unmöglich einen Text über Perfektionismus und Entdeckungen schreiben. Die zwei Begriffe passen ja schon rein begrifflich gar nicht zu einander. Jeder wird von Weitem sehen, das ich meinem Perfektionsanspruch ganz und gar nicht gerecht werde - und das gerade beim Thema Perfektionismus!
Oh. Hoppla!
Da habe ich doch glatt einen Text über Perfektionismus und Entdeckungen geschrieben.
Es hat damit angefangen, dass ich keine Ahnung hatte, was ich nach der Überschrift hinschreiben könnte. Und dann kam ein erster Gedanke, der zu einem zweiten Gedanken geführt hat.
Der dritte Gedanke zu diesem Text kam so unvermutet, dass ich selbst völlig überrascht war.
Und wohin das Schreiben nun geführt hat, hätte ich in meinen Gedanken unmöglich vorhersehen können, bevor ich angefangen habe, sie aufzuschreiben.
Was ich hier verfasst habe, ist nicht nach Plan entstanden. Denn beim Planen bin ich nicht über den zweiten Satz hinausgekommen.
Ich hab es beim Machen entdeckt.
Spannend. Oder?