„Die Mutismus-Forschung steckt noch in den Kinderschuhen“

Christine Winter // Mutismus

18. April 2016  

Vor ein paar Tagen habe ich mich mit Carina Helwig und Felix Vogel unterhalten. Die beiden studieren an der Uni Gießen Psychologie und haben für ihren Studienabschluss Themen rund um Selektiven Mutismus und soziale Ängstlichkeit gewählt. Um dafür erst mal die nötigen Informationen zu sammeln, führen sie im Moment gemeinsam eine Onlinebefragung durch, bevor es dann in ein paar Wochen an die Auswertung geht.

Im Stille-Stärken-Interview haben wir vor allem über die Studie und die Ziele von Carina und Felix geplaudert.


Christine: Hallo Carina, hallo Felix. Schön, dass wir uns heute kennenlernen.
Ihr zwei habt gemeinsam mit Melanie Molly einen Online-Fragebogen zusammengestellt, um dann in eurer Bachelor- und Masterarbeit die Informationen daraus auszuwerten.
Wie seid ihr denn auf Selektiven Mutismus als Thema gekommen?

Felix: Mir ist aufgefallen, dass dieses Thema ziemliches Neuland ist – und neue Sachen finde ich in der Forschung besonders interessant. Dann habe ich viel in Foren und Gruppen darüber gelesen und festgestellt, dass viel Informationsbedarf da ist. Das war ein Anreiz für mich, zu diesem Thema zu forschen, um mit den Ergebnissen dann Menschen zu helfen.
Und außerdem ist es total vielschichtig, was man rund um Selektiven Mutismus und soziale Ängstlichkeit untersuchen kann.

Carina: Ich bin als Kind auch mal in Situationen gekommen, in denen Sprechen schwierig für mich war. Dann habe ich zwar nicht durchgängig in bestimmten Situationen geschwiegen, aber wenn ich mich sozial unsicher fühlte, habe ich nur noch sehr wenig oder gar nichts mehr gesagt.
Ich habe gemerkt, dass ich aus meiner eigenen Erfahrung heraus einen guten Zugang zu dem Thema habe.
Und was Felix sagt, kann ich voll unterschreiben: Es ist bisher so wenig erklärbar und das macht die Forschung dazu so interessant.

Christine: Erzählt doch noch ein bisschen mehr darüber, was das Ziel oder das erwartete Ergebnis eurer Arbeiten ist.

Carina: Wir haben unterschiedliche Zielsetzungen, da wir ja verschiedene Arbeiten schreiben.
Ich schreibe meine Bachelorarbeit über die unterschiedlichen Sprechverhalten bei Kindern mit Selektivem Mutismus. Das kann bisher sehr schlecht kategorisiert werden, und so kam ich auf die Idee, dass es möglicherweise mehrere Typen von Selektivem Mutismus gibt.
Interessant finde ich, dass manche Kinder nicht mit Erwachsenen sprechen können, während andere nicht mit Kindern sprechen. Und auch die unterschiedlichen Situationen, in denen die Kinder nicht sprechen, hat mich darauf gebracht, dass vielleicht gar nicht der selbe Typ von Mutismus vorliegt.

Oder vielleicht liegen – wenn man die Angst betrachtet – auch ganz unterschiedliche Inhalte der Angst vor. Ich kann mir vorstellen, dass es Kinder gibt, die nicht sprechen, weil sie Angst davor haben, dass das, was sie sagen wollen, nicht gut ankommt oder sie dafür schlecht bewertet oder ausgelacht werden. Andere Kinder könnten Angst davor habe, etwas wirklich faktisch falsch zu sagen oder falsch zu machen – sogar, wenn gar niemand dabei ist.

Felix: Gerade bei Mutismus steckt die Forschung in den Kinderschuhen und unser Anliegen ist es, mehr über die zugrundeliegenden Ängste herauszufinden. Während sich Carina mit den möglichen Subtypen beschäftigt, versuche ich in meiner Masterarbeit herauszufinden, was den Selektiven Mutismus von der sozialen Ängstlichkeit unterscheidet.
Selektiver Mutismus wird oftmals lediglich als Sonderform der sozialen Ängstlichkeit betrachtet. Mit Sicherheit kann die Angst in sozialen Situationen eine große Rolle spielen, jedoch könnten darüber hinaus noch weitere Angstinhalte von Bedeutung sein.

In der Studie haben wir dazu sowohl Fragen, die von den Teilnehmern beantwortet werden, als auch Videos über alltagsnahe Situationen, die die Kinder und Jugendlichen bewerten. Aus diesen Bewertungen erkennen wir, wie unangenehm verschiedene Situationen empfunden werden.

Carina: Außerdem können wir so feststellen, welche Situationen schwieriger sind als andere.

Christine: Wie lange kann man denn noch an der Studie teilnehmen?

Felix: Die Datensammlung läuft zwar noch bis Ende Juli 2016, eventuell auch bis zum Herbst, denn wir möchten eine möglichst große Teilnehmerzahl erreichen, damit wir später bei der Auswertung auch möglichst gute Ergebnisse bekommen. Aber da Carina für ihre Bachelorarbeit die Daten schon Ende April braucht, freuen wir uns sehr über jeden Teilnehmer, der sofort mitmacht.

Die Ergebnisse möchten wir allen Interessenten zugänglich machen. Und besonders viel liegt uns daran, den Teilnehmern nach dem Abschluss der Auswertung Informationen darüber zu geben, was die Studie, die sie unterstützt haben, für Ergebnisse gebracht hat und wie diese eventuell künftig zu einer besseren Hilfe für Betroffene führen.

Christine: Ich finde super, dass ihr euere Erkenntnisse veröffentlichen werdet und ich fände es schön, wenn wir hier im Blog dann einen Gastartikel von euch lesen können.

Felix: Da freuen wir uns drauf.

Christine: Habt ihr vor, eure durch die Studie gewonnenen Erkenntnisse nach dem Studium praktisch anzuwenden?

Carina: Ich möchte auf jeden Fall später eine Therapieausbildung machen. Mich interessiert vor allem, schon in den Anfängen bei den Kindern Hilfestellung bieten zu können, bevor sich die Störung im Erwachsenenalter als festgefahrene Struktur nicht mehr so leicht aufbrechen lässt.

Felix: Ich möchte das Thema gerne noch weiterführen und dazu auch noch weitere Studien machen. Es ist einfach ein interessantes Forschungsfeld.

Und ich möchte auch langfristig gerne eine Therapieausbildung im Bereich Kinder- und Jugendpsychologie machen.

Christine: Habt ihr, da ihr euch ja sehr intensiv mit dem Thema Mutismus auseinandersetzt, noch einen Tipp für Betroffene?

Carina: Es gibt für Selektiven Mutismus an verschiedenen Orten Sprechstunden in der Mutismus-Ambulanz von Uni-Kliniken. Ich finde, das ist ein guter erster Anlaufpunkt, um Therapeuten zu finden, die über Mutismus Bescheid wissen.

Felix: Und auch über die Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V. und Still-Leben e.V. gibt es die Therapeutennetzwerke mit spezialisierten Therapeuten.

Christine: Herzlichen Dank, dass ihr euch die Zeit für unser Gespräch genommen habt. Ich bin mir sicher, dass unter den Stille-Stärken-Lesern viele Teilnehmer für eure Studie sind und ich wünsche euch ganz viel Erfolg für die Bachelor- und Masterarbeiten.