Auf Tante Luises Achtzigstem

Christine Winter // Introvertiert

29. Juni 2015  

Jeder hat sie.
Die diversen Tanten, die irgendwie – man hat schon fast vergessen, wie eigentlich genau – zur Familie gehören.

Da gibt es die echten Groß­tanten und die angeheirateten, die entfernten Cousinen vom Opa und solche, die den Titel „Tante“ von der Familie irgend­wann ehrenhalber verliehen bekommen haben.
Von den Schwestern und den Ehefrauen der Brüder von Mama und Papa ganz zu schweigen…

Und alle diese nicht besonders nahen, aber auch nicht allzufernen, Verwandten haben ständig runde Geburtstage, die natürlich angemessen und unter vollzähligem Erscheinen der ganzen weitläufigen Verwandtschaft gefeiert werden. Und dazu kommen „halbrunde“ Geburtstage („Man weiß ja nie, wie oft man noch die Gelegenheit hat…“) und Schnapszahlen („Man weiß ja nie…“) und irgendwelche Feierlichkeiten ohne nachvollziehbarem Anlass („Man weiß…“ – Du weißt schon.)

Ich bin in einem Alter, in dem die Generation der Großtanten mittlerweile ausgestorben ist. Aber es geht mit der Generation der Tanten nahtlos weiter. Runde und halbrunde und unrunde Geburtstage – einer nach dem anderen…

Fragst du dich jetzt, warum ich dir das schreibe?

Ich fühle mich auf diesen Geburtstagsfeiern unwohl.

Mittagessen in der Gaststätte, Kaffeetrinken im Esszimmer der Tanten-(Schwieger-)Tochter, sobald der Kuchenteller leergegessen ist die unvermeidliche Aufschnittplatte… Unter acht Stunden geht so eine Feier nie ab – gerne länger, man hat sich ja eeewig nicht mehr so gemütlich getroffen.

Alle quatschen durcheinander. Wenn mich ein Thema interessieren würde, dann wurde es bereits wieder gewechselt, bevor ich mich ins Gespräch einklinken konnte. Und wenn mich ein Thema nicht interessiert, dann fällt es mir eh schwer, darüber zu smalltalken.

Und dann immer dieses staunende: „Hui, du bist aber groß geworden!“
Unweigerlich gefolgt vom neugierigen: „Und, hast‘ bald vor, zu heiraten?“
Was wiederum unweigerlich überleitet zum stirnrunzelnden: „In deinem Alter hatte ich schon X Kinder.“

Früher habe ich das stumm über mich ergehen lassen. Irgendwie habe ich die Geburtstage hinter mich gebracht, schweigsam und abweisend, aber doch so angepasst, dass mir niemand einen Vorwurf machen konnte.

Heute entscheide ich mich oft, einfach nicht hinzugehen. Runde, halbrunde und unrunde Geburtstage passieren auch wenn ich nicht dabei sitze, mich stundenlang unwohl fühle und frustriert Kuchen in mich hineinschaufle.

Je nach emotionaler Nähe tut’s auch ein Anruf bzw. eine Geburtstagskarte oder -Mail.
(Ja, die Tantengeneration ist mittlerweile zum Teil auch schon online.)
Oder, wenn ich nur als Anhängsel meiner Eltern eingeladen bin, die Bitte, man möge der Tante herzliche Grüße ausrichten und sagen, dass ich in letzter Zeit echt tierischen Stress habe… (Ich bin mir absolut sicher, dass meine Eltern das angemessen ausschmücken.)

Und wenn’s dann doch mal sein muss…

Manchmal führt kein Weg daran vorbei. Tante Luise wird nur einmal Achtzig, ich hab‘ sie irgendwie schon ganz gern, und man weiß ja wirklich nie…

Dann möchte ich den Tag auch bestmöglich hinter mich bringen. Und zwar so:

KEIN STRESS MIT GESCHENK UND SO

Tante Luise darf keine Schokolade, keinen Alkohol, tut sich mit Lesen schwer und kuckt von ihrem Sessel fast den ganzen Tag in Richtung Fernseher – wobei man nicht genau weiß, ob sie die Sendung wirklich sehen will oder nur vergessen hat, wie die Fernbedienung funktioniert.

Das klingt jetzt vielleicht herzlos, aber: Für Tante Luise zählt nur die Geste.
Ein Blumenstrauß, eine Topfpflanze, eine Schachtel Pralinen, eine Obstschale… Sie wird sich freuen, weil Besuch kommt und etwas für sie dabei hat – da gibt’s kein Richtig oder Falsch.

Was nicht heißt, dass du nicht kreativ sein darfst. Wenn du eine wundervolle Idee hast – prima. Aber mach dir bloß keinen Stress damit!

SO LANG WIE NÖTIG – NICHT LÄNGER

Es reicht, wenn du beim Kaffeetrinken dabei bist. Manchmal reicht es sogar, zur Aufschnittplatte einzutrudeln. Das hat den Vorteil, dass sich die Anwesenden schon weitgehend leergequatscht haben und während des Essens ein wenig Ruhe einkehrt.

Es hat zugegebenermaßen den Nachteil, dass sich das geballte Interesse erst einmal auf den Neuankömmling richtet und man von allen Seiten mit Fragen rechnen muss. Die gehen allerdings alle in die gleiche Richtung: „Wie geht’s denn? Was machst du so? Wir haben uns ja eeeewig nicht gesehen! Du musst unbedingt alles erzählen.“ Und sie können mit einem kurzen zusammenfassenden Text, den man in die Runde spricht, zur vollständigen Zufriedenheit erschlagen werden.

In meiner Verwandtschaft ist die Aufmerksamkeitsspanne für meine Antwort bei geschätzt weniger als zwei Minuten – alles was ich danach erzähle, geht bereits wieder im allgemeinen Geplauder unter.

Im Grunde reicht als Antwort: „Mir geht’s gut. Ich bin erfolgreich im Beruf, habe einen Haufen Hobbies und bin immer noch zufriedener Single, weder schwanger noch verlobt.“

EINFACH DABEI SEIN

Nach dem ersten Schwall an Interesse setze ich mich vor meinen Kuchenteller und lasse die Veranstaltung an mir vorbeigleiten. Die Unterhaltung plätschert um mich herum und ich schaue mal interessiert nach links und mal interessiert nach rechts. Manchmal gebe ich einen schnellen Kommentar ab, wenn mich ein Thema wirklich interessiert – aber meistens finde ich es viel interessanter, zuzuhören und zu beobachten.

Und das reicht auch.

ES IST NICHT DIE ZEIT FÜR TIEFE GESPRÄCHE

So eine Familien-Kaffeeklatsch-Situation am beengten Esszimmertisch ist nicht geeignet für intensive Gespräche über spannende Themen. Das ist manchmal schade und manchmal nicht – aber es ist einfach immer so.

Schön finde ich, wenn es die Möglichkeit gibt, sich mit einem einzelnen Gesprächspartner eine ruhige Ecke zu suchen. Das Wohnzimmer ist dafür oft gut geeignet oder der Garten – und notfalls kann man mit einem von den Rauchern eine Weile vor die Tür gehen.

Das tut allein schon gut, um dem unvermeidlich enormen Lärmpegel für eine Weile zu entfliehen und den akuten Sauerstoffmangel auszugleichen. Aber es ist auch eine wunderbare Gelegenheit, in ein wirklich interessantes, wirklich persönliches Gespräch zu kommen.

WENN’S GENUG IST: ABHAUEN

Ich brauchte wirklich viele von diesen Feiern, bis ich ein Gefühl dafür entwickelt hatte, wann es mir reicht. Ich spüre mittlerweile, wenn es mir zu viel wird – und das ist oft schon nach einer halben Stunde der Fall. Sobald es die Höflichkeit erlaubt mache ich mich dann aus dem Staub. Die günstigste Gelegenheit dafür ist, wenn andere aufbrechen und ich mich anschließen kann.
(Ehrlicher wäre es natürlich, einfach zu sagen, dass es mir zu viel wird, noch länger zu bleiben – aber das habe ich mich tatsächlich noch nie getraut!)

Manchmal entscheide ich mich auch, bis zum Ende durchzuhalten, weil es mich zu sehr anstrengt, mittendrin aufzustehen, mich von Tante Luise und danach reihum von allen anderen zu verabschieden und einen eleganten Abgang hinzulegen.

Ein guter Zeitpunkt zum Gehen ist, wenn eh gerade „Bewegung“ in der Veranstaltung ist, zum Beispiel weil die Teller nach dem Essen zusammengestellt werden. Indem du die verwüstete Aufschnittplatte in die Küche trägst, bist du schon mal aufgestanden. Auf dem Rückweg gehst du statt an deinen Platz einfach zu Tante Luise und erklärst ihr, dass du jetzt los musst – worauf der traditionelle Kommentar folgt: „Ja, ja, die jungen Leut‘ haben halt immer noch was vor…“

Dann lächelst und nickst du und antwortest erst Tante Luise liebevoll: „Genau. Ich hab noch was vor.“ Und dann lächelst du in die Runde, winkst freundlich und erklärst: „Ich muss leider los. Wünsch euch noch einen schönen Abend. War nett euch mal wieder zu sehen. Tschüss!“
Fertig. Abgang.

Das geht natürlich herzlicher und höflicher. Aber so erfüllt es auch seinen Zweck. Und es ist halbwegs schnell und unanstrengend.

FÜR HEUTE REICHT’S. PAUSE!

Du hast zwar freundlich geschwindelt, dass du noch was vorhast. Aber der Tag war wirklich anstrengend genug. Nimm dir eine Auszeit, und zwar eine ausgiebige!

Mach, was immer für dich ein guter Gegenpol zu Lärm und Überforderung ist: Spaziergang, Musik hören, am Computer zocken, Yoga, Schlafen, Kuchen backen…

Für heute hast du dich genug verausgabt und sollst nur noch tun, was dir gut tut.

Fazit:

Familienfeiern sind nicht unbedingt dafür geeignet, dass sich Stille Menschen wohl fühlen. Vielleicht wäre das auch zuviel verlangt.
Die Frage für mich als introvertierte und oftmals immer noch „maulfaule“ Nichte von Tante Luise ist: Wie kann gut für mich sorgen und den Jubeltag mit Tante Luise angemessen feiern?

Ich habe meine persönlichen Lösungen gefunden, um recht gut zurecht zu kommen und mich dabei nur ein kleines Bisschen zu verbiegen.

Jetzt würde mich natürlich brennend interessieren, welche Ideen du für die unvermeidlichen Tanten-Geburtstage parat hast. Ich freue mich auf deinen Kommentar!

Sei du selbst, lass die anderen anders sein.
Deine

Christine